Mit Demokratie hat Kunst nichts am Hut

Möglichkeiten und Herausforderungen der Kunst in der demokratischen Gesellschaft

Wir alle benutzen im Alltag oft den Begriff Kunst, ohne uns wirklich zu fragen, was wir genau damit meinen. Würden wir auf der Straße unvermittelt gefragt werden, was für uns Kunst sei, was würden wir wohl antworten? "Mit Demokratie hat Kunst nichts am Hut", sagt Filmemacher Christoph Hochhäusler, und doch muss Kunst immer "politisch" sein, wenn sie in der Gesellschaft etwas bewirken möchte.

Kunst und Demokratie haben eines gemeinsam: Beides sind offene Begriffe und lassen sich daher nicht endgültig definieren. Zu komplex ist ihre historische Entwicklung, die wie ein Baum immer mehr Äste und Zweige hervorbrachte, zu vielschichtig und sogar widersprüchlich ihre Kräfte, die unsere Gesellschaft prägen.
Kulturelle Erzeugnisse sind tatsächlich Kräfte, die unablässig auf unsere Gesellschaft einwirken, ob wir uns ihrer bewusst sind oder nicht. Kunst, Wissenschaft, sozialpolitische Formen, ethisch-religiöse Konzepte usw., all dies sind Elemente, die eine Kultur gestalten und die menschliche Evolution voranbringen - zumindest im Idealfall, denn es gibt Kräfte, die eine gute Kultur fördern und andere, die zu einer schlechten Kultur führen.



Wir fragen, inwieweit die Kräfte der Kunst in unserer demokratischen Gesellschaft dem Guten oder dem Schlechten dienen - auch wenn wir aufgrund der Vielschichtigkeit des Themas keine abschließende Antwort finden werden.
Zu der Vielschichtigkeit der Frage nach dem Guten und Schlechten in der Kunst gesellt sich eine weitere Herausforderung: die hoffnungslos unübersichtliche Masse an Kunst und damit die Inflation des Kunstbegriffs. Unsere Kultur zieht die Quantität der Qualität vor. Es ist kaum zu glauben, was heute alles als "Kunst" bezeichnet wird. Und mit Berufung auf das demokratische Recht der Meinungs- und Pressefreiheit wird diese Kunst dann durch die Medien in die Öffentlichkeit gebracht und vermarktet. Doch die Medien sind Wirtschaftsunternehmen und arbeiten gewinnorientiert. Sie wollen daher mehr Einschaltquoten und Auflagenstärken. Das Produkt "Kunst" muss also verkaufbar gemacht werden.
Unsere Kunst braucht mehr Qualität.


Ein wenig Etymologie


Altgriechisch techné bedeutet Kunst und das technische Wissen darum, wie etwas gemacht werden muss, parallel zum althochdeutschen Wort kunst, welches mit dem Verb können und kennen verwandt ist: Ein Künstler ist ein "Könnender", ein "Kennender" - Kunst und Handwerk bilden eine Symbiose. So ist auch verständlich, warum wir heute auch von "Kochkunst" oder "Heilkunst" sprechen.



Doch wir sehen auch, wie sehr sich der heutige Kunstbegriff von seiner etymologischen Bedeutung entfernt hat. Viele Möchtegernkünstler und Volkshochschulmalkurse schmücken sich gerne mit dem Satz "Jeder Mensch ist ein Künstler" von Joseph Beuys und rechtfertigen damit, dass die Kritzelei jedes Kleinkindes auch als Kunst zu gelten habe - also weg mit Technik und Handwerk in der Kunst! Der berühmte Satz von Beuys ist jedoch aus dem Zusammenhang gerissen. Er geht nämlich weiter: "Jeder Mensch ist ein Künstler. Damit sage ich nichts über die Qualität. Ich sage nur etwas über die prinzipielle Möglichkeit, die in jedem Menschen vorliegt [...] Das Schöpferische erkläre ich als das Künstlerische, und das ist mein Kunstbegriff." Beuys beherrschte übrigens ausgezeichnet die Techniken der Malerei und Bildhauerei.


 


Der Betrug der "Demokratisierung der Kunst"


Die Kunst ist heute zur Ware geworden. Dahinter steht eine mächtige Kulturindustrie. Der Philosoph und Musikkenner Adorno behauptete, die Kulturindustrie sei "keine Massenkultur als Kultur der Massen, von ihnen hervorgebracht und sie repräsentierend"; er bezeichnet die "scheinbar demokratische Teilnahme der Massen an Kultur" als "Massenbetrug". Das Aufrüttelnde an Kunst wird durch die Kulturindustrie entschärft.



Ein Motto der Demokratisierung lautet "Gleiches Recht für alle! Gleicher Zugang zur Kunst für alle!", aber die Wirkkräfte dahinter sind nicht immer positiv.
Ein Beispiel, wo offensichtlich Demokratisierung mit Geschäftemacherei, Vermassung und Verbildung verwechselt wird, ist der private Fernsehkanal MTV, der sich auf Videoclips spezialisiert hatte. Er begann 1981 in den USA und ist heute ein internationaler Konzern in Afrika, Asien, Australien, Europa, Amerika, Russland und dem Nahen Osten. Heute erreicht er fast 500 Millionen Haushalte in 179 Ländern. Diese Musikvideoclips "Kunst" zu nennen fällt mir schwer - obwohl ich anerkenne, dass die Macher von MTV viel von der Kunst verstehen, Multimillionäre zu werden.


 


Glaubensbegriff Demokratisierung


Der Begriff "Demokratisierung" ist heute zu einem Schlagwort geworden, der glauben lassen soll, dass damit alle Menschen glücklich werden. Er sickert in alle kulturellen Bereiche hinein. Er ist zu einem Glaubensbegriff geworden. Wer dies hinterfragt, löst Entsetzen aus, wie jene Menschen vor tausend Jahren, die eine allein selig machende Kirche hinterfragten.
Allgemein gesagt bezieht sich Demokratisierung auf den Abbau hierarchischer Herrschaft in gesellschaftlichen Bereichen. In seiner Schrift Strategien der Demokratisierung definiert Fritz Vilmar: "Demokratisierung ist [...] der Inbegriff aller Aktivitäten, deren Ziel es ist, autoritäre Herrschaftsstrukturen zu ersetzen durch Formen der Herrschaftskontrolle von "unten", der gesellschaftlichen Mitbestimmung, Kooperation und [...] durch freie Selbstbestimmung." Dies klingt gut, ist aber schwer auf Kunst zu übertragen. Ein Beispiel ist das Phänomen des Genies - denken wir an Leonardo da Vinci, Shakespeare oder Mozart. Wurden die etwa "von unten" durch gesellschaftliche Mitbestimmung zu Genies? Hat die "Mehrheit" der Gesellschaft (die in der Demokratie eine gewisse "diktatorische Macht" besitzt, wie Alexis de Tocqueville sagt) ihnen ihre Ausbildung finanziert und ihre Künste gefördert? Wurden Genies von ihren Zeitgenossen durch Mehrheitsbeschluss berühmt? Überspitzt können wir sagen, dass die meisten Genies nicht aufgrund, sondern trotz ihrer Zeitgenossen berühmt wurden, dazu meist erst nach ihrem Tod ...


 


Der Zusammenhang von Kunst und Kultur


Vielleicht kennen Sie diesen Satz: "Kunst kommt von Können, denn käme es von Wollen, dann hieße es Wunst." - Kunst baut selbstverständlich Können auf. Doch Können allein ist nicht genug. Kunst ist eine gestalterische Tätigkeit des schöpferischen Geistes und ist somit ein Produkt der "Kultur", nicht der "Natur".
Wir müssen also Kunst auch im größeren Zusammenhang der Kultur betrachten, um ihren Stellenwert richtig einschätzen zu können.
Was ist Kultur? Im Allgemeinen alles, was der Mensch selbst erschafft. Zu den menschlichen Kulturleistungen zählen nicht nur Kunst, sondern auch Religion und Moral, soziopolitische Formen und Recht, Wissenschaft, Wirtschaft und Technik und vieles mehr.
Wir dürfen jedoch Kultur nicht reduzieren auf Opernaufführungen und Rock-Konzerte, Volkshochschulkurse, Museen, Skateboardparks, Olympiaden und Ähnliches mehr. Wir dürfen nicht die Mittel mit dem Ziel verwechseln.



Kultur beinhaltet, etymologisch gesehen, in erster Linie humanistische und evolutive Aspekte, die verloren zu gehen drohen, wenn wir sie nicht kennen und in unsere Gesellschaft einbringen.


 


Noch einmal Etymologie


Das lateinische Verb colere, cultus, von welchem unser Wort Kultur stammt, hat drei Bedeutungsebenen:



  1. kultivieren, bebauen: Wir denken an Agrikultur, Landwirtschaft, die Erde bearbeiten; im weiteren Sinne das Leben selbst bearbeiten, eine lebenswerte Zukunft bearbeiten. Dies können wir übertragen auf die Finalität der Künste, die ja Bestandteil der Kultur sind. Was kultiviert Kunst in der Gesellschaft bzw. was soll durch Kunst kultiviert werden? Damit hinterfragen wir die Maxime l'art pour l'art, denn Kunst sollten wir nicht als Ziel auffassen, sondern als Mittel. Das Ziel besteht nämlich darin, dem Leben mehr Qualität zu geben.


  2. bewahren, pflegen: Was ist bewahrenswert? Unsere aus der Vergangenheit überlieferten und als überzeitlich erkannten Werte. Dabei geht es nicht um blindes Kopieren äußerer Formen. Vom Komponisten Gustav Mahler stammt der Satz: "Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche." Traditionelle Formen können sich gesellschaftlich positiv oder negativ auswirken. Es geht darum, welche Werte die Formen transportieren. Hier spielen die Künste eine entscheidende Rolle. Es gibt keine wertfreie Kunst. Eine Kunst, die frei von Werten ist, ist wertlos. Und Kunst kann Werte bewahren und pflegen helfen, die sowohl dem Einzelnen als auch der Gesellschaft zugutekommen.


  3. verehren, Kult ausüben: Hier geht es um das Unsichtbare jenseits jeder äußeren "Kultur", um den Kontakt mit dem Heiligen, unabhängig von Religion und Konfession. Das Wort Kult als ziviler Begriff steckt auch im Wort Kultusministerium, das noch in sieben Bundesländern Deutschlands benutzt wird. Hier wird der Begriff Kultus, entgegen seiner eigentlichen Bedeutung, als Synonym für Bildung verwendet. Bei diesem dritten Aspekt von colere kommt jedoch eine philosophische Dimension des Kulturbegriffs hinzu, der die Fähigkeit des symbolischen Denkens einbezieht. Es ist vor allem diese Fähigkeit des symbolischen Denkens, die die geistige Entwicklung der Menschheit ermöglicht. So wird der Mensch mit Kleinbuchstaben zum MENSCHEN mit Großbuchstaben, jenseits von Alter, Geschlecht und Hautfarbe, jenseits der religiösen, kulturellen und sozialen Unterschiede. Wo findet sich in unserer Zivilgesellschaft dieser Aspekt von Kultur? Welche zeitgenössischen künstlerischen Leistungen und Erzeugnisse kanalisieren diesen Aspekt von Kultur?



"Mit Demokratie hat Kunst nichts am Hut"


Dies ist der Titel eines Artikels des Filmemachers Christoph Hochhäusler. Dort schreibt er: "Die Kunst ist ein missionarisches Unternehmen. Sie will zur Aufmerksamkeit verführen, [...] die Augen öffnen. Mit Demokratie hat sie nichts am Hut. [...] Es geht hier nicht um elitäre Kunst, sondern um das Unbezahlbare, den irrationalen Rest, der haften bleibt in den Gedanken und unsere Sicherheit gefährdet. [...] Immer geht es um die Frage: "Was ist wirklich"?"
Kunst hat nicht nur nichts mit Demokratie am Hut, sondern ihr sind alle Staatsformen gleich gültig, also gleichermaßen gültig.



Es gab Kunst in der Steinzeit, in prähistorischen Jäger- und Sammlerkulturen; es gab Kunst in den gesellschaftspolitischen Formen, die sich aus der Sesshaftwerdung entwickelten; Kunst lebte und lebt in monarchischen oder oligarchischen Feudalsystemen genauso wie in Diktaturen und Demokratien, in all ihren unzähligen Varianten. Johann Sebastian Bach lebte und wirkte unter einer Feudalherrschaft mit klaren gesellschaftlichen Hierarchien, aber er hat deshalb nicht schlechtere Musik gemacht als Komponisten unserer Zeit, die das Glück haben, in Demokratien zu leben. Und Kunst wird es auch in Zukunft geben, wenn sich neue, heute noch unbekannte politische Formen in der Geschichte der Menschheit herausbildet haben werden.
Gute Kunst braucht einerseits die Unabhängigkeit von allen politischen Systemen, um sich nicht vor den Karren fremder Interessen spannen zu lassen. Andererseits ist gute Kunst immer "politisch" im Sinne von "die Gemeinschaft, das Gemeinwohl betreffend" und hat daher nicht nur eine individuelle, sondern immer auch eine sozialpolitische Verantwortung.


 


Der Weg des Künstlers - individuelle und sozialpolitische Verantwortung


Mich inspiriert in diesem Zusammenhang das Höhlengleichnis von Platon: Er beschreibt eine Höhle als Symbol für eine unmündige Gesellschaft, in der wir leben, gefangen in Unwissenheit und manipuliert durch die sogenannten "Herren der Höhle". Will jemand mündig werden und sich von der Fremdbestimmung befreien, muss er die Höhle verlassen: Platon nennt dies den Weg des Philosophen. Hat der Philosoph die Wahrheit über sich selbst und die Welt gefunden, kehrt er in die Höhle zurück, um die Menschen zu befreien, die in der Höhle in ihrer illusorischen Welt des Materialismus und Konsumismus vor sich hinleben. Dies nennt Platon den Weg des Politikers, wobei mit "befreien" eine erzieherische Arbeit gemeint ist.



Ich denke, dass ein Künstler in sich den "Philosophen" und den "Politiker" vereinen muss. Jeden Tag muss er ein wenig mehr "aus der Höhle heraus" und sich von seinen eigenen inneren und äußeren "Fesseln" befreien; er braucht die "gesunde Einsamkeit", um seine Unbestechlichkeit zu bewahren und die Quelle der Inspiration in seinem Herzen rein zu erhalten. Er muss ebenso jeden Tag ein wenig mehr "in die Höhle hinein", er muss unter die Leute, auch wenn ihm das oft lästig erscheint. Er hat eine Botschaft, die davon kündet, dass zum Leben ebenso die Welt außerhalb der Höhle gehört - auch auf die Gefahr hin, deshalb verlacht, diskriminiert oder gar verfolgt zu werden.
Platons Höhle ist ein Symbol, ein Bewusstseinszustand in jedem Menschen, ein gesellschaftliches kollektiv-psychologisches Phänomen. Platon selbst bezieht sein Höhlengleichnis auf die demokratische Gesellschaft ...
Ein Künstler, der wirklich an Kultur im wahrsten Sinne des Wortes interessiert ist, lehnt die demokratische Gesellschaft nicht ab und buhlt auch nicht um die Gunst ihrer Machthaber. Er mag in ihr leben, aber er selbst ist nicht ihr Kind.


Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 130, Juli 2012 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht, Autor: Walter Gutdeutsch