Stärke - warum wir mehr können, als wir glauben

In einem philosophischen Kongress Anfang des Jahres hat ein Vortragender folgendes Statement abgegeben. : „Hätten wir Europäer nur ein Viertel der Probleme eines durchschnittlichen Menschen aus Bangladesch, würden wir verzweifeln. Uns fehlt die moralische Stärke.“ Jetzt, einige Monate später, wird die Notwendigkeit von Stärke angesichts der Krise immer deutlicher …

Ist Stärke überhaupt ein Wert, eine erstrebenswerte Eigenschaft? Der Stärke haftet in unseren Ländern ein zweifelhafter Ruf an. Dunkle historische Zyklen haben sie uns suspekt gemacht. Und es stimmt: „Starke Männer“ haben in vielen Ländern mehr Schaden als Nutzen gebracht. Doch wird der Ruf nach ihnen nicht vor allem dann laut, wenn es den meisten Menschen an Stärke fehlt und sie deshalb von anderen gefordert wird?


Im Internet bin ich auf das folgende Bild mit einer zwar vereinfachten, dennoch treffenden Botschaft aufmerksam geworden:


 


 


Wohlstand birgt eine gut getarnte, aber umso heimtückischere Gefahr in sich: die Bequemlichkeit. Viele philosophische Schulen haben das erkannt und versucht, gegenzusteuern: die griechischen Kyniker, die indischen Asketen oder die gemäßigteren Stoiker.


Im einen oder anderen Aspekt braucht jeder Stärke. Egal, in welchem Lebensbereich: Ohne Wille, Durchhaltevermögen und Stärke angesichts von Widrigkeiten ist kaum ein größeres Ziel zu erreichen. Wer diesen moralischen Wert stärken will, dem seien folgende Punkte aus den Schriften verschiedener Philosophen empfohlen:


1. Schwierigkeiten akzeptieren



„Man muss es nötig haben, stark zu sein: sonst wird man’s nie.“  Friedrich Nietzsche



Auch wenn wir es in unserem eigenen Leben oft nicht wahrhaben wollen: Es sind die schwierigen Zeiten und Phasen, die uns wirklich weiterbringen. Entweder die Schwierigkeiten, die uns das Leben beschert oder die Herausforderungen, für die wir uns selbst entscheiden, um an ihnen zu wachsen. Ein Sportler kann niemals stärker werden, wenn er nicht trainiert. Er muss an seine Grenzen gehen, sonst kann er sie nicht überschreiten. Das ist ein Naturgesetz, das auch im übertragenen Sinn gilt.
Eine Geschichte aus Indien bringt die Notwendigkeit der Schwierigkeiten prägnant auf den Punkt:
Als Gott Brahma die Welt erschaffen hatte, betrachtete er sein Werk, seine Schöpfung. Da sah er einige verpuppte Raupen, die sich abmühten, aus ihrem engen Kokon zu schlüpfen. Eine der Raupen mühte sich besonders stark und da empfand Brahma Mitleid. Er öffnete den Kokon und half somit dem kleinen Geschöpf, leichter herauszuschlüpfen. Ein wenig später sah er bunte Schmetterlinge, die sich in die Lüfte erhoben. Doch bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass ein Wesen noch am Boden kauerte: dasjenige, das er aus dem Kokon befreit hatte. Daraufhin – sagt die Geschichte – erkannte er, dass die Wesen der Schöpfung die Schwierigkeiten und den Schmerz brauchen, um zu dem zu werden, was ihre Bestimmung ist. So wie der Schmetterling, der erst durch seine Anstrengung genügend Blut in die Flügel zu pumpen vermag, damit sich diese entfalten können.


Die Schwierigkeiten alleine genügen nicht, auch das zu akzeptieren ist wichtig: ein (Grund-)Vertrauen ins Leben bzw. ein spirituelles Weltbild aufzubauen und sich immer wieder daran zu erinnern. Das Gute sowie Schwierige anzunehmen und es als Gelegenheit bzw. sogar als Geschenk zu sehen, um sich zu entwickeln. Also Dankbarkeit zu empfinden für das, was man im Leben hat. Menschen mit spirituellem Weltbild sind nachweislich resilienter, d. h., sie sind in der Lage, konstruktiver mit Schwierigkeiten umzugehen*.


2. Ein klares Ziel vor Augen haben



„Wer ein Warum hat zu leben, erträgt fast jedes Wie.“ Friedrich Nietzsche (angeblich)




Es gibt Berichte darüber, dass Menschen in Extremsituation unglaubliche Kräfte entwickeln:
Eine Frau in den USA, die das Auto ihres Vaters hochhob, als ihn dieses einquetschte. Eine Mutter in Kanada, die mit einem Eisbären kämpfte, als dieser ihren Sohn angriff. Soldaten, die – selbst schwer verwundet – Kameraden retteten etc**. In Extremsituationen ist das Warum so evident, dass es keine Alternative gibt. Und genau darin liegt das Geheimnis starker Menschen: Sie haben – nicht nur in Extremsituationen – ein klares Bild davon, warum bzw. wofür sie sich anstrengen, wofür sie etwas aushalten bzw. wofür sie Schmerzen ertragen.
Arnold Schwarzenegger hat es geschafft, in drei vollkommen unterschiedlichen Bereichen stark und erfolgreich zu sein: im Bodybuilding (im wahrsten Sinne des Wortes „stark“), als Schauspieler und in der Politik. In einem Vortrag über das Geheimnis seines Erfolges sagte er, dass das Wichtigste im Leben ist, herauszufinden, wo man hinmöchte: „Finde deine Vision, nicht die deiner Eltern, deiner Lehrer oder deiner Freunde, sondern deine eigene Vision.“ Wer diese Vision klar vor sich hat und sich immer wieder vergegenwärtigt, hat die Basis dafür geschaffen, sie trotz aller Hindernisse zu verwirklichen. Und diese Vision, so fügte er hinzu, solle kühn sein. Von Michelangelo ist folgendes Zitat überliefert: „Die größere Gefahr besteht nicht darin, dass wir uns zu hohe Ziele setzen und sie nicht erreichen, sondern darin, dass wir uns zu niedrige Ziele setzen und sie erreichen. “
Ein großes Ziel, das man zwar nicht vollkommen erreicht, ist dennoch der beständige Motor, der uns antreibt, es immer wieder von Neuem anzupeilen.


3. Emotionale Bekräftigung


Vielfach ist das Warum für unsere Anstrengungen im täglichen Leben nicht so evident wie bei den großen Persönlichkeiten der Geschichte. Oder wir bewahren unsere Vision nur für kurze Zeit und verlieren sie dann wieder aus den Augen.



Florian Wildgruber, Ironman-Teilnehmer und Motivationstrainer, beschreibt in seinem Buch „Stärke“, warum die meisten Menschen, die sich als Ziel setzen, ein paar Kilo abzunehmen, scheitern: Meistens haben sie keine emotionale Beziehung zu ihren Zielen. Er berichtet von einem Manager, der nach einem Herzinfarkt von seinem Arzt die Empfehlung bekam, zehn Kilogramm abzunehmen und Sport zu betreiben. Die anfänglichen Versuche waren erfolglos, denn aufgrund der zeitlichen Knappheit wollte er nicht zusätzlich noch zwei Abende der Woche „opfern“, an denen er seine Kinder nicht sehen konnte, um Sport zu betreiben. Daraufhin stellte der Motivationstrainer die Frage: „Wie wäre es, wenn du zweimal die Woche trainierst und du siehst deine Töchter an diesen beiden Abenden nicht, dafür aber 20 Jahre länger?“ Das war die nötige „emotionale Ladung“, die er als Motivation brauchte.
Das Warum, das nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz anspricht, muss natürlich jeder selbst finden. Roberto Assagioli, italienischer Psychotherapeut, empfiehlt in seinem Buch „Die Schulung des Willens“ folgende Übung:


„Bringe dich in eine bequeme Position und entspanne die Muskeln. Dann stelle dir so lebendig wie möglich vor, wie du die Sache, die du dir vorgenommen hast, nicht schaffst. Stelle dir den Schaden und das Leiden für dich und andere vor. Schreibe diese Begebenheit nieder und erlaube den Gefühlen, die diese Situation mit sich bringt, intensiv auf dich zu wirken, sodass sich der starke Wunsch regt, diesen Zustand zu ändern.
Nun stelle dir vor, was passiert, wenn du das Vorgenommene erreichst. Schreibe alles nieder, versetze dich in die Freude und positiven Emotionen, die damit in Verbindung stehen, und verspüre den Drang, sofort damit anzufangen.“



4. Disziplin


Auch wenn es wichtig ist, den Gipfel immer im Bewusstsein zu haben, so wird ihn niemand erklimmen, wenn er den Weg nicht geht. Und dieser Weg ist der Weg der Disziplin. Jeder Sportler weiß: No pain, no gain. Ohne Schmerz und tägliche Anstrengung geht es nicht. „Die meisten Menschen finden das Wort Disziplin ungefähr so sexy wie das Wort Finanzamt“, sagt Florian Wildgruber, aber den schlechten Ruf hat die Disziplin zu Unrecht.
Disziplin bedeutet nicht, sich so sehr zu kasteien, dass man jegliche Freude verliert. Sie ist keine Unterdrückung oder Verdrängung von Bedürfnissen, sondern lenkt sie. Und gerade diese Fähigkeit des Willens, nicht jedem Impuls seiner Persönlichkeit unmittelbar nachgehen zu müssen, führt zu einem höheren Genuss, wenn man sich für ihn entscheidet. Das zehnte Stück Schokolade schmeckt nicht so gut wie das eine, das man bewusst genießt. Die Erholung nach dem Sport ist schöner, als wenn man sich vorher nicht angestrengt hat etc. Das Resultat einer adäquaten Disziplin ist also ein Gefühl von Freude, Selbstvertrauen und Zufriedenheit.


Stärke gewinnt man nicht unmittelbar: Ein starker Baum braucht Jahrzehnte, um stark zu werden. Stärke ist das Produkt vom Glauben an das Leben und an sich selbst, der Sinnfindung bzw. der eigenen Mission, der vielen kleinen Entscheidungen und einem oftmaligen „Wieder-von-vorne-Anfangen“, wenn man hingefallen ist. Sie ist nicht Starrheit, sondern Elastizität. Und sie kann trainiert werden. Fangen wir damit an! Unsere Welt braucht starke Menschen!



Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 161, Juli 2020 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht, Autor: Andreas Stock