Seneca

„Nur an wenigen Tagen des Lebens verfolgen wir konsequent unser Ziel, das wir uns gesetzt haben. Warum? Weil wir in ständiger Angst leben und uns für sterblich halten, ohne unsere Ewigkeit jenseits der sichtbaren Welt zu erkennen." (Über die Kürze des Lebens).

Dieses Zitat Senecas kann als Überschrift zu seiner Philosophie dienen, in der er versucht, die praktische Lebensführung mit einer esoterischen Sichtweise des Lebens zu verbinden.


Seneca ist ein Philosoph, der mitten im Leben steht, seine Lebenserfahrung mit einbringt und nicht abstrakt theoretisiert.


 


Zuwendung zur Philosophie gegen den Willen seines Vaters


Lucius Annaeus Seneca wurde zwischen 5 v. Chr. und 4 n. Chr. in Cordoba (Spanien) als Sohn eines bekannten Redners geboren. Sein Vater liebte die Rhetorik, „hasste" jedoch die Philosophie. Seine Mutter Helvia hatte ein größeres Interesse daran und wohl auch einen wesentlichen Anteil an seiner Zuwendung zur Philosophie (Seneca bedachte sie während seiner Verbannung mit einer Trostschrift). In seiner frühen Kindheit übersiedelte die Familie nach Rom, wo Seneca den üblichen Bildungsgang für Söhne aus adligen Häusern durchlief. Grammatik- und Rhetoriklehrer sowie Juristen unterrichteten ihn und seine Karriere war sehr bald vorgezeichnet. Aus eigenem Antrieb und gegen den Willen des Vaters beschäftigte er sich auch mit dem Studium der Philosophie. Als Lehrer hatte er den Pythagoräer Sotion von Alexandrien, den Stoiker Attalus sowie den Kyniker Demetrius. Aus dieser Zeit übernahm er praktische Maßregeln wie die Entsagung des Genusses von Leckerbissen, Wein und warmen Bädern. Auch machte er sich die abendliche Gewissensprüfung zur Aufgabe. Seneca rechnete sich der stoischen philosophischen Schule zugehörig. Diese philosophische Richtung zeichnet sich durch das Praktizieren der Tugend im Einklang mit der Natur und dem Bewusstsein der Pflicht aus. Seneca band sich nicht dogmatisch an diese Schule. So bezieht er sich in seinen Texten häufig auf die Lehre des Epikur (342 - 270 v. Chr.). Außerdem entwickelte er eigene philosophische Ideen. Seine kritische Auseinandersetzung mit der Sklaverei mag als Beispiel dienen. Er bezeichnete den Sklaven als Mitmenschen, der so behandelt werden solle, wie man selber von seinem Vorgesetzten behandelt werden wolle.


 


Krankheit und politischer Aufstieg


Senecas politische Karriere beginnt sehr spät, da er seit seiner Kindheit krank war. Vermutlich litt er an Tuberkulose und Asthma. Seine Krankheit begleitete ihn sein ganzes Leben und nach schlimmen Anfällen hatte er Selbstmordabsichten. Nach eigener Aussage brachte ihn die Beschäftigung mit der Philosophie jedoch davon ab. Seine Krankheit begriff er als „Vorübung zum Sterben" (54. Brief an Lucilius). Um Heilung zu suchen, unterbrach er seine bisher erfolgreiche Laufbahn als Redner und Anwalt und ging für ca. 5 Jahre nach Ägypten. 31/32 n. Chr. kehrt er nach Rom zurück und strebte nun konsequent eine politische Karriere an.



Dies brachte ihm 34/35 n. Chr. das Amt des Quästors ein, das erste Amt in der römischen Ämterlaufbahn. In der nun folgenden Zeit machte er sich einen Namen als erfolgreicher Schriftsteller, Redner, Philosoph, Geschäftsmann und Politiker. Im Jahre 37 begann die Zeit der Regierung des Caligula (bis 41 n. Chr.), die sich durch zunehmende Grausamkeiten auszeichnete. Es heißt, dass der Kaiser auf die rhetorischen Fähigkeiten des Seneca dermaßen eifersüchtig war, dass er ihn zum Tode verurteilen lassen wollte. Nur der Hinweis, dass Seneca aufgrund seines Gesundheitszustandes sowieso bald sterben werde, verhinderte wohl eine Verurteilung. Seneca hatte einen engen Kontakt zu den Schwestern des Caligula, zu Julia Livilla und Agrippina, was für sein weiteres Schicksal von Bedeutung sein sollte.



 


 


Verbannung nach Korsika


Nach der Ermordung des Caligula (41) kam Claudius an die Macht, und auf Betreiben dessen Gattin Messalina wurde Seneca des Ehebruchs mit Julia Livilla bezichtigt und wurde nach Korsika verbannt. In sozialer Isolation musste er nun von 41 - 49 sein Leben verbringen. In dieser Zeit entstanden wahrscheinlich die Schriften "Über den Zorn" und "Über die Kürze des Lebens". Währenddessen intrigierte am römischen Hof Agrippina erfolgreich gegen Messalina. Agrippina heiratete Claudius, ihren Onkel, und bewirkte die Rückberufung von Seneca. In Rom wurde ihm das Amt des Prätors übertragen und er zur Erziehung des Sohnes von Agrippina (Domitius, später Nero) verpflichtet.


 


An der Spitze des Staates als Neros Berater


Nach dem Tode des Claudius 54 wurde Nero im Alter von siebzehn Jahren Herrscher des römischen Imperiums. Seneca konnte in seiner Funktion als erster Berater und Redenschreiber Neros großen Einfluss auf die Politik nehmen. Zur Seite stand ihm der befreundete Präfekt der Prätorianergarde Burrus. Es war diesen beiden Männern zu verdanken, dass die ersten Jahre der Herrschaft Neros sehr erfolgreich waren. In dieser Zeit vermehrte der Philosoph Seneca seinen Reichtum. Dies brachte ihm Kritik ein, in der ihm die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis seiner philosophischen Lehren vorgeworfen wurde. Doch sein Reichtum entsprach eher einem gesellschaftlichen Zwang als Bereicherung. Seneca begegnet der Kritik in der Schrift "Über das glückliche Leben". So sagt er: „Bei einem Weisen ist der Reichtum nichts weiter als ein Sklave, bei einem Toren macht er sich zum Herrn". Auch mag „der Philosoph ... reiche Schätze besitzen, aber Schätze, die niemandem abgepresst und mit fremdem Blut befleckt sind". „Man solle (nicht) auf ihren Besitz überhaupt verzichten, sondern man solle nur nicht ängstlich an ihrem Besitze festhalten; er (der Philosoph) weist sie nicht von sich ab, aber muss er sich von ihnen trennen, so lässt er sie ohne Kümmernis ziehen."


 


Befehl zum Selbstmord


Henryk Siemiradzki: Die lebenden Fackeln des Nero


Die guten Zeiten neigten sich dem Ende zu, als Nero seine Mutter Agrippina umbringen ließ. Nachdem auch sein Freund Burrus verstarb, wurde Seneca schließlich macht- und einflusslos. Er zog sich vom Hofe zurück, überließ Nero seinen Eskapaden und widmete sich intensiv seinen philosophischen und wissenschaftlichen Studien. Es entstanden die Briefe an Lucilius und die naturwissenschaftlichen Untersuchungen. Im Jahre 65 n. Chr. wurde Seneca verdächtigt, an der Verschwörung des Piso zur Ermordung des Kaisers beteiligt gewesen zu sein. Ohne Gerichtsurteil wurde Seneca die Selbsttötung befohlen, und er zögerte nicht, dieser Aufforderung nachzukommen. Der Historiker Tacitus beschreibt den Selbstmord in seinen Annalen. Danach öffnet sich der Philosoph im Beisein seiner Freunde und seiner Frau die Pulsadern. Seine Frau Paulina tat es ihm nach, da sie sich ebenfalls umbringen wollte. Nero jedoch wollte nicht, dass die Unzufriedenheit über seine Grausamkeiten zu stark würde und befahl ihr weiterzuleben, woraufhin ihre Wunden versorgt wurden. Da bei Seneca der Tod nicht eintreten wollte, nahm er einen Gifttrank zu sich. Auch dies schien dem geschwächten Körper nicht das letzte Leben zu nehmen, worauf er sich in ein Dampfbad bringen ließ. Dort erstickte Seneca letztendlich. „Die Leiche wurde ohne Begräbnisfeier verbrannt. So hatte er es selbst verfügt, schon zurzeit, wo er noch reich und mächtig war und doch schon an sein Ende dachte." (Tacitus, Annalen).


 


Senecas Vermächtnis



Was von seinen Werken verblieben ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:



  • neun Tragödien, in denen er sich mit dem Verhängnisvollen der menschlichen Leidenschaft und der Verhaltensweise der Seele in schwierigen Situationen auseinandersetzt:
    Hercules furens (Der rasende Herkules), Troades (Die Traerinnen), Phoenissae (Die Phoenikerinnen), Medea, Phaedra, Oedipus, Agamemnon, Thyestes und Hercules Oetaeus (Herkules auf dem Öta). Die Urheberschaft des Schauspiels Octavia ist umstritten.

  • eine Satire ,Apocolocyntosis (´Verwandlung in einen Kürbis, Verkürbissung´) auf Kaiser Claudius.

  • zehn philosophische Schriften, die in der Überlieferung in den sogenannten Dialogen zusammengefasst sind. Hier steht die Ethik im Mittelpunkt:
    De providentia (Über die Vorsehung),
    De constantia sapientis (Über die Standhaftigkeit des Weisen),
    De ira (Über den Zorn),
    Ad Marciam de consolatione (Trostschrift an Marcia),
    De vita beata (Über das glückliche Leben),
    De otio (Über die Muße),
    De tranquillitate animi (Über die Gemütsruhe),
    De brevitate vitae (Über die Kürze des Lebens),
    Ad Polybium de consolatione (Trostschrift an Polybius),
    Ad Helviam matrem de consolatione (Trostschrift an die Mutter Helvetia)


weitere philosophische Schriften:


Ad Neronem de clementia (An Nero über die Milde), De beneficiis (Über Wohltaten), Naturales quaestiones (Naturwissenschaftliche Untersuchungen), Epistulae morales ad Lucilium (Briefe an Lucilius über Ethik)


 



 


Seneca heute


Die philosophischen Ansichten Senecas waren zu seiner Zeit aktuell und sind es noch heute. Die Erfahrung des Zeitmangels, die Seneca so häufig diskutiert, ist ein Leiden der Gegenwart. Der Zeitgeist lenkt den Menschen ab von einem selbstverantwortlichen Umgang mit seiner Lebenszeit. In seinen Schriften verlangt Seneca keine philosophische Vorbildung, so dass die Ausführung sehr verständlich und wie aus dem Leben gegriffen sind. In "Über die Kürze des Lebens" analysiert er den damals modernen Zeitgeist; diese Ausführungen können ohne weiteres auf die heutige Zeit übertragen werden:


Am Anfang steht die Klage über die Kürze des Lebens. Dagegen stellt er die These, dass wir keine zu knapp bemessene Lebenszeit besitzen, sondern zu viel davon vergehen lassen. Es ist also die Aufgabe des Menschen, „klug über seine Lebenszeit zu disponieren". Um dies tun zu können, muss man die Gefährdungen kennen, die diesem Vorhaben entgegenstehen, wie unkontrollierte Begierden, Ehrgeiz oder Ziellosigkeit. Auch lassen wir andere über unsere Lebenszeit verfügen, genauso wie wir die Zeit anderer beeinflussen. Seneca erklärt dies einem imaginären Gesprächspartner mit folgenden Fragen:


"Wir sehen, du bist an der äußersten Grenze menschlichen Lebens angelangt; hundert Jahre oder mehr noch lasten auf dir. Wohlan, überschlage dein Leben und gib Rechenschaft davon. Berechne, wie viel dir davon der Gläubiger, wie viel die Geliebte, wie viel der Angeklagte, wie viel der Klient entzogen hat, wie viel der eheliche Hader, wie viel das dienstbeflissene Umherrennen in den Straßen der Stadt; nimm dazu die selbst verschuldeten Krankheiten und was unbenutzt liegen blieb, so wirst du sehen: die Zahl deiner Jahre ist weniger als du annimmst. Frage dein Gedächtnis, wenn du einmal deiner Sache sicher gewesen bist, wie wenige Tage deiner Absicht gemäß verlaufen sind, wie selten du mit dir selbst Umgang gepflogen, wie selten du dein wahres Gesicht gezeigt, wie oft dein Gemüt verzagt hat, frage dich, was du in dieser langen Lebenszeit wirklich geleistet, wie viel dir von deinem Leben durch andere weggenommen wurde, ohne dass du den Verlust gewahr wurdest, wie viel vergebliche Trauer, törichte Freude, unersättliche Begierde, der Reiz der Geselligkeit dir Zeit geraubt, wie wenig dir von dem Deinigen geblieben - und du wirst einsehen, dass du stirbst ehe du reif bist."


Ursachen für die Nachlässigkeit im Umgang mit der Lebenszeit liegen einmal im Ignorieren der eigenen, jederzeit möglichen Sterblichkeit (mortalitas). Auch das abstrakte, immaterielle Wesen der Zeit ist dafür verantwortlich, dass niemand den Wert (pretium) der Zeit ermisst: „man bedient sich ihrer so gedankenlos, als sei sie umsonst." Der Wert wird erst erkannt, wenn man kurz vor dem Ende seiner Zeit, vor dem nahenden Tode steht. Zu Verlust von Lebenszeit führt auch das angestrengte Fokussieren auf die Zukunft, sein Leben auf zu lange Sicht zu planen und zu sehr ein Sklave seiner geschäftlichen Betätigung zu sein, denn „am kürzesten ist das Leben der Vielbeschäftigten (occupati)".


Einen Ausweg aus dem Bewusstsein des Zeitmangels sieht Seneca im richtigen Gebrauch der Muße (otium). Diese besteht in der Lektüre und dem Durchdenken klassischer philosophischer Texte, welche uns den Zugang zu allen Zeitaltern gibt, und dem Erlernen dieser Weisheiten. Die Antworten sind in der Natur erfahrbar, aber auch in uns, wir müssen nur manchmal daran erinnert werden. Als Lohn verspricht Seneca: "Du darfst mit einer Fülle von herrlichen Erkenntnissen rechnen, auf Liebe zur Tugend und auf ihre Betätigung, auf gründliche Verabschiedung aller Leidenschaften, auf sichere Kunde über Leben und Sterben, auf tiefe Seelenruhe."


Autor: Martin Oßberger