Wichtiger als neue Schuhe sind die Menschen, die darin gehen

Wer sich mit Geschichte beschäftigt, erkennt ihre Zyklizität. Die gesamte Natur gehorcht Zyklen: Tag und Nacht, Sommer und Winter, die Gezeiten des Meeres, die Luftbewegungen...

Alles beinhaltet ein Kommen und Gehen, ein Zusammenziehen und eine Ausdehnung – gleich unserem Herzen.


Geschichte ist also nichts Abstraktes. Sie besteht nicht nur darin, dass wir Marmorstatuen betrachten oder Bücher lesen. Sie ist eine Ansammlung von vergangenen Ereignissen und daraus gewonnenen Erfahrungen. Sie wurde von Menschen wie wir gemacht und auch wir formen heute Geschichte.


Auch der Mensch ist Teil der Natur und daher zyklisch. Deshalb verbrauchen sich auch die Formen, die wir benützen – so wie unsere Kleidung oder Schuhe durch den Gebrauch alt werden. Von Zeit zu Zeit wechseln wir diese. Aber deshalb werden wir selbst keine anderen.


Wir können also zwei Aspekte unterscheiden: Die Dauerhaftigkeit des Individuums durch seine spirituelle, metaphysische und ontologische Einheit – und die Geschichte als Fortdauer des Kollektivs, jenseits der Formen und Mittel, die wir verwenden, um in und mit der Umwelt zu leben und zu kommunizieren. Die Glanzzeit der Systeme ist vorbei, ebenso der Glaube daran, dass ein bestimmtes System, sei es politisch, ökonomisch, sozial oder religiös, alle Probleme lösen könnte. Damit etwas Neues entstehen kann, damit wir in einen neuen Zyklus eintreten können, brauchen wir nicht nur Systeme, sondern wir brauchen Menschen, die neu sind, die anders sind, die Kraft und Mut haben.


Die Menschheit braucht, wenn sie wirklich neu und besser sein will, grundsätzlich bessere Menschen. Das ist die Wichtigkeit der Arbeit, die wir in der ganzen Welt machen. Wir wollen einen philosophischen Kern wiedererschaffen.


Aber wenn wir von Philosophie sprechen, verstehen wir darunter nicht die Philosophie im heutigen, sondern im klassischen Sinn. In der postkartesianischen Epoche fragmentierte sich unsere Zivilisation. Auf der einen Seite trennten sich die Politik, die Religion und weiter die Wirtschaft und die verschiedenen Disziplinen der Wissenschaften voneinander. Diese einzelnen Teile des Puzzles müssen wir wieder zusammensetzen: die Menschen mit der Stadt, in der sie leben, zusammenbringen, die Stadt mit dem Staat, in dem sie sich befindet, den Staat mit dem Planeten und alles mit der Natur verbinden. Auf diese Weise können wir vielleicht eine neue Menschheit andenken, in Übereinstimmung mit ihrem spirituellen und ontologischen Inhalt, der die Menschen ausmacht.



Das ergibt eine interessante Arbeitshypothese, über die man nachdenken kann. Sie bedeutet aber, dass es Veränderungen in der physischen, energetischen, emotionalen und mentalen Welt braucht.


Die neue Spiritualität


Wir haben das Leben intellektualisiert, wir kennen z. B. die Formel des Wassers, wir wissen wie die Flüsse entsprechend den physikalischen Gesetzen fließen, aber das letztliche Warum können wir nicht erklären.



Es gibt ein Mysterium im Fließen des Wassers, es gibt ein Mysterium, das wir wieder wahrnehmen sollten. Das Wasser wird im Schnee gefangen oder im Eis der hohen Berge. Es schwebt in einer Wolke, um eines Tages auf die Erde zu fallen. Wenn es auf die Erde regnet, dann weiß das Wasser, wohin es fließen muss. Auch wenn sich Hindernisse in den Weg stellen, auf jeden Fall fließt es zum Meer – um sich neuerlich in eine Wolke zu verwandeln und wieder auf die Erde zu fallen – in einem anderen Zyklus.


Der Mensch heute hat dieses natürliche Wissen, woher er kommt und wohin er geht, vergessen. Wir kommen vom Mysterium, wir kommen von Gott, wir kommen aus dem Metaphysischen.


Jenseits meines physischen Körpers – ähnlich einem Roboter – sehen Sie mich durch das, was ich sage, was ich von meinen inneren Wesen beschreibe. Das bin ich, nicht das, was außen ist. Können wir diesen natürlichen Sinn des Individuums wiederfinden, mit derselben Natürlichkeit, mit der Regen auf die Erde fällt – ohne zu zweifeln?



Wollen wir uns wirklich erneuern, dann müssen wir lernen, auf unser Schicksal zuzugehen und das Metaphysische wahrzunehmen. Bevor Sie in diesen Raum traten, sahen Sie im Garten Pflanzen, die natürliche Schwimmbojen haben, um sich an der Wasseroberfläche zu halten, und ich habe gedacht: „Wie kann jemand glauben, dass dies ein Zufall ist?“ Die Samen haben „Fallschirme“, mit denen sie sich in der Luft drehen und vom Baum entfernen. So hat die universelle Intelligenz ihnen die Fähigkeit des Fliegens verliehen, schon bevor der Mensch fliegen gelernt hat. Die Existenz einer großen kosmischen Intelligenz, die alle diese Dinge anordnet, ist für mich daher ganz klar.


Wir brauchen auch Kultur. Aber wir werden nicht nur Platon, Aristoteles, Kant oder Heidegger lesen. Wir werden in der Natur lesen, im Himmel oder in unseren Mitmenschen. Wir sehen sie dann nicht wie ein absurdes Umfeld, sondern mit der ehrlichen Absicht, zu einem wirklichen Verständnis der Dinge zu kommen.


Das neue Zusammenleben


Die Zukunft wird, parallel zu diesem inneren Erleben, ein neues Konzept des Zusammenlebens und des politischen Verstehens verlangen. In unserer Welt gibt es viele unlogische Dinge, aber da wir daran gewöhnt sind, akzeptieren wir sie. Wenn wir uns für einen Job bewerben, wird ein Lebenslauf von uns verlangt. Wir brauchen eine entsprechende Qualifikation. Warum kann es dann sein, dass man Staatspräsidenten nur durch die Stimmen der Wähler einsetzt – aufgrund einer finanzierten Propaganda, bewegt von Interessen, die vielfach den Nationen selbst fremd sind?



Es wird nötig sein, politische Ideen neu zu überarbeiten und Politiker, die ein Volk regieren, dafür auszubilden. Politik kommt vom Wort politeia: die Fähigkeit zu regieren, einen Staat lenken zu können.


Die neue Wissenschaft


Es braucht auch ein neues Konzept für die Wissenschaft. Die Macht des Wissens darf nicht ausschließlich im Dienst geschaffener Interessen und der Zerstörung sein; die Wissenschaft soll der Menschheit dienen: eine offene Wissenschaft, die das Warum der Dinge sucht und nicht gering schätzt, was die Alten wussten.


Ich habe ägyptische Pyramiden, griechische und römische Tempel besucht und viele von Ihnen haben sie auch gesehen. Diese überwältigenden Bauwerke wurden von Wissenschaftlern, Architekten und Astronomen ihrer Zeit errichtet. Wissen Sie, dass die Nord-SüdBasis der großen Cheopspyramide nur 5’ Abweichung aufweist? Heute wissen wir, dass es unmöglich ist, ohne optische Messinstrumente eine Abweichung von weniger als 18’ zu erreichen, wie im Observatorium von Paris. Das ist eine Abweichung, die 13’ größer ist als bei der Cheopspyramide. Hier muss also eine fortgeschrittene Technologie existiert haben. Warum das alles verlieren? Nur weil es alt ist? Das Alter ist weder ein Argument von Weisheit noch von Ignoranz. Dort, wo der Philosoph die Wahrheit entdeckt, dort muss er sie bekanntmachen.



Die neue Kunst


Dasselbe können wir auch von der Kunst sagen. Heute wird Kunst mit der Fähigkeit der Kreativität identifiziert, und vor einigen Jahren hat in Paris ein dressierter Affe, der Eier auf eine Wand schleuderte, einen Malwettbewerb gewonnen. Das ist nicht surrealistische Kunst ...


Um etwas über Kunst zu wissen, ist ein Studium nötig – eine Interpretation der Natur. Wir müssen uns wieder trauen, die Natur zu interpretieren, wenn wir gute Bilder malen wollen; eine Malerei, die nicht nur die verstehen, denen wir sie erklären, sondern die auch zukünftige Generationen verstehen. Wenn wir heute in die Museen gehen und eine Venus von Milo oder eine Skulptur von Praxiteles sehen, dann braucht uns niemand erklären, dass sie schön ist. Wir empfinden es natürlicherweise – auch wenn fünfundzwanzig Jahrhunderte vergangen sind, seit sie geschaffen wurden.Wir brauchen eine neue Kunst, die uns etwas Erhebendes gibt, etwas, das uns an etwas Größerem teilhaben lässt. Denn es ist notwendig, dem Menschen Protagonismus zurückzugeben.


Man hat uns einen Kasten vor die Nase gesetzt, den man Fernseher nennt, sodass wir glauben, Abenteuer und heroische Taten zu erleben. Das ist aber nur ein Beobachten. Man hat uns in Zuseher verwandelt: in Zuseher des Politischen und Sozialen; des Ökonomischen, des Künstlerischen und des Wissenschaftlichen. Der Mensch der Zukunft will wieder Protagonist werden, er will der sein, der er war und der er morgen sein wird. Er möchte auf den Zug der Geschichte aufspringen und nicht von ihm mitgeschleift werden.


Jeder Einzelne von uns, so bescheiden, arm, unwissend oder allein er sein mag, hat Kraft, Träume und Projekte in sich. Das, was wir in uns haben, dürfen wir nicht sterben lassen.



Das Traurigste auf der Welt sind für mich Friedhöfe. Nicht Friedhöfe für unsere physischen Körper, sondern die Friedhöfe unserer Träumen: die Verse, die wir uns nie getraut haben, zu Papier zu bringen, die Musik, die wir nie gesungen, den Kuss der Freundschaft, den wir nie gegeben, die klare Meinung, die wir nie ausgesprochen haben.


Ein historisches und humanistisches Projekt


Wir müssen uns also den Mut zuückerobern. Den zukünftigen Menschen kann man nicht mit Gold kaufen, man kann ihn auch nicht mit Blei zerquetschen, denn er weiß, dass er sein Leben auf die eine oder andere Weise sowieso verlieren wird. Vielleicht kommen wir wieder, wie die Theoretiker der Reinkarnation sagen. Vielleicht ist die Reinkarnation auch eine Tatsache, aber diesen Körper müssen wir alle verlieren. Ist es dann nicht besser, ihn in einer wohlbringenden Tat, in einer fruchtbaren Arbeit zu verlieren – anstatt völlig umsonst, nur weil die Jahre verrinnen wie Sand in einer Sanduhr?


Wir wollen also Protagonismus, wir wollen wach sein, wenn wir wach sind und wir wollen innerlich wach sein, wenn wir schlafen.


Diese neuen Eigenschaften werden nicht morgen in einem Kind geboren, sondern sie sind eine Geisteshaltung; egal ob man 90 oder 20 Jahre alt ist. Wir können sie uns erobern, wenn wir es wollen. Das heißt, das Neue wird nicht kommen, sondern wir Menschen können es verwirklichen, jetzt, hier, wenn wir wirklich verstehen, was dieses Neue ist. Es bringt eine Verbesserung und Potenzierung von all jenem, das in uns ist.


Ich habe nicht von der „Hypostase“ oder vom „Noumenon“ gesprochen, denn ich möchte nicht, dass Sie mir nach meinem Vortrag sagen: „Sie haben gut gesprochen! Wie gut Sie die philosophische Terminologie beherrschen!“ Ich möchte, dass Sie sagen: „Das hat mir geholfen! Ich habe etwas gehört, das mir im Leben nützlich ist!“ Wenn das einer von Ihnen meint, reicht mir das schon.


Unsere Welt befindet sich in einer Krise, unsere Zivilisation wankt. In dem Maße, wie sich die Kirchen leeren, füllen sich die Supermärkte, und trotzdem leidet die Hälfte der Menschheit an Hunger. Währenddessen halten die Theoretiker weiterhin Reden über die Verteilung von Reichtümern, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass es keine Reichtümer gibt, die man verteilen kann.



Wenn wir jetzt eine Torte hätten und sie an alle Anwesenden verteilen würden, müssten wir uns in Vögel verwandeln, denn es gäbe ein Krümelchen für jeden. Das Wichtige ist, nicht den Reichtum zu verteilen, sondern zuerst etwas zu haben, an dem wir wirklich reich sein können. Das verlangt den Begriff des Reichtums im physischen, psychischen und spirituellen Sinn zu rekonstruieren.


Zusammenfassung


Um diese neuen Ideen und Vorschläge einer neuen Moral zu verwirklichen, ergeben sich große Schwierigkeiten. Aber wir haben Kraft, wir haben Frieden und Freude im Herzen, wir haben Arbeit in unseren Händen. Wir haben Vorstellungskraft und Fantasie und wir werden Verse verfassen, die wir niemals geschrieben hätten. Wir werden die Wahrheit entdecken, die wir nicht gekannt haben. Wir – Menschen von heute – müssen eine Welt wiedererschaffen.


 


Anmerkung:
Dieser Artikel ist eine gekürzte Übersetzung eines Vortrags von Jorge Angel Livraga aus dem Jahr 1983 in Lima, Peru. Er war der Gründer der Schule der Philosophie: Neue Akropolis. Heute gibt es in 60 Ländern der Welt insgesamt über 450 Schulen, in denen Kultur, Philosophie und Volunteering gelehrt und praktiziert werden.