Die Entstehung der Kultur

Der Mensch - ein kulturschaffendes Wesen

Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch ein kulturschaffendes Wesen. Kultur besteht darin, das Erworbene zu bewahren und durch Gesetze und Bräuche weiterzugeben. Dabei spielen die Vorstellungskraft und die schöpferische Tätigkeit eine besondere Rolle.

Welche Rolle die Vorstellungskraft bei der Entwicklung des Menschen spielt


Die neuesten Erkenntnisse der bio-kulturellen Anthropologie zeigen uns den Prozeß der Menschwerdung als eine Reihe von Evolutionssprüngen, mit der die Evolution die Art „Homo" vom Bewußtsein und Verhalten des Tieres abgespalten hat.


Die Tiere verfügen über einen Schaltplan der Instinkte und über Verhaltensweisen, die ihnen das Überleben sichern. Sie verwenden manchmal Werkzeuge und zeigen Ansätze von rationalem Denken. Durch ihre Unfähigkeit aber, Mittel und Erfahrungen auf ein Ziel hin anzuwenden, das außerhalb ihres genetischen Programms liegt oder eine zeitliche Kontinuität erfordert, sind sie jedoch dem Menschen unterlegen.


Wenn das Tier seine unmittelbaren Bedürfnisse befriedigt hat, vergißt oder verliert es seine Werkzeuge. Es ist gezwungen, immer wieder von vorne anzufangen, wenn neue Ziele (oder sogar alte) auftauchen. Dadurch ist das Tier unfähig, Erfahrungen oder materielle Güter, die über das hinausgehen, was in seinem genetischen Code festgelegt ist, zu erwerben und an seine Nachkommen weiterzugeben. Das Bewußtsein des Tieres ist nicht dazu in der Lage, das Feld seiner unmittelbaren Bedürfnisse zu übersteigen.


Wenn also der genetische Code allen Lebewesen ihre angeborenen Eigenschaften übermittelt, so ist es im Gegensatz dazu die Kultur, die durch Gesetze und Bräuche Erfahrungen weitergibt, die die erworbenen Kenntnisse vergangener Generationen und die menschliches Bewußtsein erst möglich macht. Es handelt sich dabei um ein Bewußtsein, das über den Augenblick hinausgeht, das Erworbenes speichert und schöpferisch tätig ist.


Das Entstehen der Kultur ist mit der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins verbunden, also mit der Fähigkeit, die Zukunft zu gestalten und sich mit Dingen zu befassen, die über die Erfordernisse des Augenblicks hinausgehen.


Entstehung der Kultur


Alles, was durch Kultur weitergegeben wird wie Bräuche, Glaubensinhalte, Sprache, Ideen, Vorlieben und Abneigungen, technisches Wissen, usw., sind Botschaften, die nicht nur Informationen übermitteln, welche das unmittelbare Überleben betreffen. Die Botschaft ist auch Träger eines Sinns, der über eine rein materielle Bedeutung hinausgeht: Sie ist mit Gefühlen, Symbolen, usw. beladen. Ein Hirtenstab z.B. ist bei manchen Völkern gleichzeitig das Szepter der Herrscherwürde.


Die Vorstellungskraft als erstes menschliches Werkzeug


Wie wir gesehen haben, sind menschliche Werkzeuge - im Gegensatz zu denen, welche die Tiere benutzen - nicht auf einen einmaligen Gebrauch hin konzipiert. Sie sind das Ergebnis von Gedächtnis, Erfahrung und Geschicklichkeit, welche der Mensch von Generation zu Generation weitergeben kann. Die Werkzeuge des Menschen drücken seine Vorstellung von der Welt aus und geben den Aktivitäten einer Gesellschaft und eines Volkes Sinn und Wert.


Die menschliche Kultur konnte sich dadurch entwickeln, daß die Vorstellungskraft ein Weltbild entwarf und gleichzeitig als Werkzeug der Erneuerung wirkte. Durch seine Vorstellungskraft war der Mensch dazu in der Lage, die ersten Werkzeuge herzustellen. Sie wurde zur Quelle der Menschwerdung überhaupt.


Werkzeug als Quelle der Menschwerdung


Die Fähigkeit, durch die Vorstellungskraft Bilder zu entwerfen und ins Materielle zu übertragen, ist also das erste menschliche Hilfsmittel, das erste kulturelle Werkzeug. Vor 300 000 Jahren erschienen die ersten Strichzeichnungen, die ersten Farbflecken, die ersten Bilder also, und es war im Aurignacien vor ungefähr 30 000 bis 50 000 Jahren oder mehr, als die ersten Bild-Symbole als unveräußerlicher Bestandteil menschlicher Aktivität auftauchten und nie mehr verschwanden.


Die drei Aufgaben der Kultur


Kultur ist also die Organisationsweise einer Gruppe sowie die Art der Weitergabe dieser Organisation (wobei Symbole eine wichtige Rolle spielen), und ebenso die Gesamtheit der Werte, auf denen die Vorstellung der Gruppe von sich selbst, von ihrer Beziehung zu anderen Gruppen und zur Gesamtheit der Natur basiert.


Kultur kann demnach verstanden werden als ein System, durch das die drei Hauptfunktionsweisen menschlicher Handlungen sichergestellt werden:





  • Als Organisation verleiht sie einer Gruppe Zusammenhalt und richtet sich in ihrer sozialen und individuellen Struktur nach mythischen Vorbildern.








  • Das gesellschaftliche Wertesystem garantiert den Zusammenhalt, weil Konflikte und Zwänge, die aus der Organsation erwachsen, ausgeglichen werden. Durch Feste und Riten werden  Spannungen abgeleitet und das soziale Gleichgewicht wiederhergestellt.








  • Als Bindeglied zwischen den Generationen sichert sie die Kommunikation  zwischen den Generationen. Die Aufgabe von Traditionen ist es, eine Kultur lebendig zu erhalten und die Grundwerte oder formgebenden Kräfte durch die junge Generation neu zu beleben. Eine Tradition wird durch Initiation weitergegeben, also durch einen echten Übergangsritus, der auf eine nicht wieder rückgängig zu machende,  seinsmäßige Bestimmung abzielt, d.h. auf eine individuelle oder kollektive Transformation durch Proben, die den Status quo in Frage stellen und die von innen nach außen gelebt werden.





Die drei Dimensionen des Weltbildes


Jedes Weltbild hat die Aufgabe, die widersprüchlichen Komponenten des Lebens zu integrieren. Davon geht seine erneuernde und belebende Wirkung aus. Dort, wo analytische Sprache und Begriffe unfähig sind, die widersprüchliche und paradoxe Wirklichkeit auszudrücken, eben dort gelingt dies einem mythisch-symbolischen Weltbild.


Dank seiner Komplexität schafft es dieses Weltbild, alle drei Bewußtseinsebenen zu integrieren: 


Die drei Bewusstseinsebenen des Weltbilds





  • Die kosmische Dimension sichert die Verbindung zwischen den Einzelnen, der Gruppe und der Natur, d.h. zwischen dem Lokalen und dem Globalen, zwischen dem Besonderen und dem Universellen. Dieses Bindeglied, das wir in allen Schöpfungsmythen finden,  umfaßt alle Beziehungen zwischen Himmel und Erde und zeigt die vertikale Richtung, die Hierarchie der Dinge an.








  • Die soziale Dimension verbindet das  Individuum mit der Gruppe und umgekehrt. Von dieser horizontalen Dimension hängt der Zusammenhalt  der Gesellschaft ab, sie gibt materielle Sicherheit, befriedigt aber auch das Bedürfnis nach Ordnung und Gerechtigkeit. 








  • Die individuelle Dimension gewährleistet die Verbindung des Menschen mit sich selbst und manifestiert sich als Selbsterkenntnis und Selbstbejahung. Diese Dimension gibt dem Weltbild seine Tiefe. Sie ist die Mutter jeder Freiheit und schöpferischen Tätigkeit.





Kultur auf Sparflamme


Solange die Kultur - innerhalb einer offenen und umfassenden Denkweise - diese drei Dimensionen aufweist und diese drei Funktionen erfüllt, solange ist die Lebensfähigkeit einer Gruppe gesichert.


Wenn die Kultur aber unfähig wird, mit Widersprüchen umzugehen, dem Unbekannten ins Auge zu sehen, sich das Andere vorzustellen, dann verlieren ihre Symbole an Bedeutung. Die Kultur ist dann auf Sparflamme zurückgeschraubt; die Vision trägt Scheuklappen und wird von der Logik der Ausschließlichkeit (der Logik des Oder) beherrscht:





  • Ideologien treten an die Stelle eines mythologisch-symbolischen Weltbildes








  • Die Symbole, die einmal den Zusammenhalt der Gruppen gewährleisteten, werden nun zu leeren Konventionen. In der Gesellschaft dominiert der Schein über das Sein








  • Die Riten, anfangs Handlungen voller Symbolgehalt zur Erneuerung des Individuums und der Eingeweihten, werden durch einfache Gewohnheiten ersetzt, die keine wirkliche Bedeutung haben. Dies lähmt den Menschen und führt zu mechanischen Handlungsabläufen, was in Frankreich durch den berühmten Spruch „métro-boulot-dodo" ausgedrückt wird (und ungefähr heißt: Das Leben besteht aus der Fahrt zur Arbeit, aus der Arbeit und aus Schlafen)




métro-boulot-dodo



Die Rolle der Erziehung


Zivilisationen sind zum Sterben verurteilt, wenn die eigene Kultur nicht mehr in der Lage ist, neuen Herausforderungen zu begegnen.


Der Erziehung als Übermittlerin von Kultur kommt die Aufgabe zu, diese lebendig zu erhalten, neue richtungsweisende Zeichen zu setzen, Neuerungen, die manchmal von außen kommen, einzuführen und ihnen einen Sinn, einen Zusammenhang zu geben, damit sie sich dem alten Weltbild einfügen und es bereichern. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich auch die eigentliche Aufgabe der Erziehung: Brücken zu bauen zwischen dem Alten und dem Neuen, der Vergangenheit und der Zukunft.


Aus diesem Geiste heraus stellen wir jedenfalls die wichtigste Frage dieses der Erziehung gewidmeten Artikels: Wird die Erziehung von morgen ein System von Brücken sein, die unserer Zivilisation den Übergang von den alten zu den neuen Werten erlaubt, oder wird die Erziehung eine Mauer sein, die sie weiterhin trennt?


Die Diktatur des Augenblicks überwinden


Die Vorstellungskraft ist in der Welt der Bilder zu Hause, die im menschlichen Bewußtsein zwischen der sinnlich wahrnehmbaren und der abstrakten Realität angesiedelt ist. Es handelt sich hier also um einen Zwischenraum, den die Vorstellungskraft in ihrer Rolle als Funktion des Bewußtseins beherrscht.


Bauen von Verbindungsbrücken zwischen Subjekt Mensch und Objekt Natur


Das ist auch der Zwischenraum, der sich zwischen Mensch und Natur in der Folge von verschiedenen Evolutionssprüngen (Befreiung der Hände und des Gesichts) aufgetan hat, ein Universum von immer komplexeren Verbindungsbrücken zwischen dem Subjekt Mensch und dem Objekt Natur.


Die aktive Vorstellungskraft, die symbolisches Denken fördert, erlaubt es dem Menschen, sich aus der Umklammerung des Augenblicks zu lösen. Dank der Vorstellungskraft kommunizieren die Gegensätze, öffnen sich die Realitäten füreinander, und neue Organisationsweisen des Denkens werden möglich.


Tiere fühlen nicht das Bedürfnis, solche Verbindungsbrücken zu bauen, denn sie sind weder von ihrer Umgebung noch von sich selbst getrennt.


Die vergleichende Verhaltensforschung von Mensch und Tier zeigt einen gravierenden Unterschied zwischen Mensch und Tier: Junge Schimpansen täuschen sich nicht, wenn sie Gegenstände von gleicher Beschaffenheit erkennen sollen.


Wenn man ihnen z. B. die Aufgabe stellt, alle Gegenstände aus Holz oder einem anderen Material aus einem Haufen herauszufinden, dann gelingt ihnen das ohne weiteres. Wird die Aufgabe aber so formuliert, daß sie z. B. jeden Hammer, gleich aus welchem Material, aussortieren sollen, dann gelingt ihnen das entweder überhaupt nicht oder erst nach sehr großen Anstrengungen (sie haben es erst nach 170 000 Versuchen geschafft!).


Diese Beispiele zeigen klar, daß sich die geistige Entwicklung der Primaten und anderer Tiere deutlich von der des Menschen unterscheidet, welche von Geburt an die Entwicklung von Sprache und symbolischer Geistestätigkeit kennzeichnet.


Das analoge Denken wie auch die bildhafte und symbolische Vorstellungskraft erlauben es dem Menschen, Zeit, Raum und sich selbst in einer Weise zu sehen, die nicht von den Sinnen abhängt, sich also paradoxerweise der Mechanismen zu bedienen, welche die Natur benutzt, um das Leben und die Arten im allgemeinen hervorzubringen; dieser Aneignungsmechanismus zeigt sich durch das, was wir die Geburt der Kultur nennen, durch die Weitergabe von Erfahrung durch Traditionen, eben als spezifisch menschliche Aktivität.


Die Entstehung der Bild-Symbole


Die ersten bildhaften Vorstellungen legen Zeugnis vom Bedürfnis ab, ein Gefühl des Mangels auszugleichen. Dieses Gefühl des Mangels konnte sich erst mit dem Fortschreiten der menschlichen Evolution herauskristallisieren, da sich diese auf eine schrittweise Befreiung oder Trennung des Menschen von seinem „Milieu" gründet.


So hat sich der Mensch vor zwei Millionen Jahren vom Erdboden losgelöst und sich für die aufrechte Haltung entschieden. Dadurch hat sich einerseits die Hand als ein Körperteil entwickelt, das sich von der Trägheit des übrigen Körpers unterscheidet, und andererseits wurde der Gesichtsausdruck unabhängig vom Kieferknochen ausgebildet. Diese beiden Funktionspaare - Hand/Werkzeug und Gesicht/Sprache - ermöglichten jedes auf seine Weise, dem Gedanken Form zu verleihen.


Befreiung der Hände und des Gesichts


Man erinnert uns daran, daß Befreiung und Beziehung sich zwar auf den ersten Blick ausschließen, aber doch untrennbar miteinander verbunden sind. Befreiung beinhaltet Ablösung: Die vorderen Gliedmaßen lösen sich immer mehr vom Boden und von ihrer Bewegungsfunktion; das Gesicht löst sich von der Aufgabe der Nahrungsaufnahme durch den Kiefer. Indem sie sich trennen, werden diese beiden Pole jedoch auch zu Mittlern, welche die Verbindung mit dem Boden und der übrigen Welt erleichtern. Wir nennen diese Mittler Werkzeuge. In dem Maße, in dem die Trennung fortschreitet und sich die Abstände immer mehr vergrößern, benötigt der Mensch auch immer neue Mittler.


Im Verlauf der Evolution hat sich dieser Abstand noch vergrößert. Um den Graben, der immer tiefer und breiter wurde, zu überspannen, mußte der Mensch neue Verbindungsbrücken schaffen. Er hat durch die Erfindung von Bild-Symbolen bewiesen, daß er fähig ist, Teile der Welt wie z.B. Tiere, Wald, usw. als etwas außerhalb seiner selbst Liegendes zu erkennen. Er ist sich also seiner selbst bewußt geworden, hat sich ein Bild von sich selbst gemacht und dazu die Fähigkeit, sich auszudrücken.


Jedes losgelöste oder abgetrennte Element übernimmt eine Vermittlerfunktion, und der Mensch hört seitdem nicht mehr auf, immer mehr konkrete oder subtile Bindeglieder zwischen sich und die Natur einzufügen, die alle als Symbole auftreten und sich in Bilder verwandeln.


So entsteht ein symbolischer Raum, der Mensch und Natur trennt und verbindet: die Welt der Vorstellungen. Der Prozeß der Menschwerdung, der während der Gliederung des Tierkörpers nur latent vorhanden war, ist mit der Entstehung der Vorstellung als Werkzeug in Gang gesetzt worden.


Seitdem er seine Vorstellungskraft aktiv einsetzt, ist es überdies interessant festzustellen, daß sich der Mensch nicht mehr anatomisch, wohl aber in der Ausbildung seiner Fähigkeiten weiterentwickelt hat. Unser Fortschritt hat auf dem Gebiet der Kultur stattgefunden, aber unser physisches Aussehen hat sich nicht verändert. Der Beginn unserer Evolution fällt mit dem Einsatz unserer Fähigkeiten zusammen. Deshalb sind wir auch, im Gegensatz zu anderen Arten, für unsere Entwicklung selbst verantwortlich.


Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 76, Januar 1999 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht, Autor: Fernando Schwarz