Warum das Schöne so schön ist

Oder: „Was also ist die Schönheit?“


„Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemanden auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.“



Augustinus Aurelius, der große Bischof von Hippo, der Philosoph und Heilige, hat diese Frage und das Bekenntnis am Übergang vom 4. zum 5. Jahrhundert n. Chr. bezüglich des Phänomens der Zeit getätigt.


Ist die Schönheit, wie Augustinus weiter über die Zeit ausführt, auch nicht greifbar? Existiert sie nur in unseren Köpfen?


Gibt es Schönheit oder ist sie eine menschliche Projektion?


Nun, wir bewegen uns in einem so weiten wie schwierigen Feld. Hegel negiert das Naturschöne. Nur der Mensch kann die Welt als Welt aufgehen lassen. Das Schöne kann nur im menschlichen Geist, im menschlichen Subjekt entstehen.


Anders erging es dem Dichter Petrarca im Jahre 1336. Als er den Mount Ventoux bestieg, war er von den Eindrücken so hingerissen, emotional so tief berührt, dass er in seinen Schilderungen über das Erlebte den Begriff des Naturschönen prägte. Mit Petrarca zieht das Wesen des Naturschönen in die abendländische Geschichte ein.


Was stimmt nun? Beides! Der Romantiker in uns möchte sich natürlich auf die Seite des Dichters schlagen. Hat man nicht das Gefühl, dass einem etwas entgegenkommt? Dass wir bei der Schönheit eines Gesichtes, eines Bergmassives oder einer Melodie auf unerklärliche Weise berührt werden?


Wir verfügen nicht über die Trennschärfe, um bestimmen zu können, was Projektion ist bzw. was uns als Wirkungsqualität erreicht – oder anders ausgedrückt: Was liegt im Auge des Betrachters und welche Qualität ist in den Dingen, in den Gegebenheiten selbst? Wir können diese Frage nicht beantworten.


Schönheit ist auf der einen Seite nicht verifizierbar, sondern ein Containerbegriff von unübersehbarer Komplexität.



Schönheit finden wir in den Mustern der Natur


Zugleich ist Schönheit einfach da. Sie sagt niemals, wer oder was sie ist. Sie führt es einfach vor. Wir erleben ihr Wesen im Aufeinandertreffen mit ihr. Sie springt einen regelrecht an: in einem Gemälde, in einem Musikstück, in einem Gedicht, in den ästhetischen Vorzügen eines Menschen oder in dessen gewinnender Soziabilität. Sie ist darin erkennbar, was sie in ihrem Betrachter auszulösen vermag.



Sie existiert also zweifach: in sich selbst und als Spiegelung in uns.



Diese Spiegelung ist etwas höchst Beglückendes. Schönheit beschleunigt den Herzschlag und macht das Leben anregender, lebendiger und lebenswerter.


Das Erkennen oder die Widerfahrnis von Schönheit unterscheidet sich gravierend von bloßen Empfindungen wie z. B. Müdigkeit oder Kälte. Ihr ist auch nicht mit Gedanken, Vernunft oder Gefühlen beizukommen.


Ein Bergmassiv präsentiert sich dem Bergsteiger niemals auf neutrale Weise oder lässt ihn ihm nur eine einfache Emotion zu. Es existiert immer eine Hintergrundstrahlung aus Schwebe- und Resonanzstoffen, die ihm die Größe, die Wucht, das Erhabene, ja die Schönheit der Wand zeigt und spüren lässt. Das Objekt wird mit einer qualitativen Dimension aus Tiefe, Fülle und Intensität untrennbar verwoben. Die Schönheit hat den Drang nach innen, zum Tiefen, Echten und wahrhaft Empfundenen. Vielleicht ist sie auch die edelste menschenmögliche Weise des Gewahr-Seins, ja, des menschlichen Zumute-Seins. Ist es nicht ein wunderschönes …?


 


Was ist es nun?


Was wirkt auf uns, wenn uns das Schöne als zentrale Kategorie unseres Daseins ergreift, umfasst und durchdringt? Lässt sich Schönheit einfangen, können wir sie verorten? Lassen Sie uns einen kurzen Blick auf ihre Geschichte werfen!



  • Sind es die in der Antike definierten symmetria und chroma, also die Symmetrie des Vorhandenen und die Schönheit der Farbe?


  • Ist es das pythagoreisch-mathematische Regelwerk, das die Zahl als Grundprinzip aller Dinge ansieht und apodiktisch behauptet, dass die Schönheit sich nur durch sie, nämlich in den Formen von Ordnung und Proportion, realisieren lässt?


  • Oder ist es die im Hochmittelalter von Thomas von Aquin postulierte Schönheit, also die ebenmäßige Proportion, die Vollständigkeit und die Claritas (Klarheit und Leuchtkraft)?


  •  Ähnlich definierten Kopernikus, Kepler und Newton Schönheit. Für sie war Schönheit in einer einfachen, klaren, eindeutigen, harmonischen und gleichmäßigen Grundordnung der Welt manifestiert.


  • Ist es wirklich die Ökumene aus Apollinischem und Maschinenraum, aus Proportion, Symmetrie und fraktalen Mustern, die uns verzückt? Gibt es ein angeborenes Schönheitsempfinden in uns, gespeist aus Mustern in der Natur wie Blättern, Tropfen, Früchten, Blüten …?


 



Die Muster und Proportionen in der Natur ahmen wir in Kunst und Architektur nach


Thomas Mann schreibt in seinem epochalen Werk „Josef und seine Brüder“ (Band II; Der junge Joseph) dagegen an.



„Schönheit beruht auf Gesetzen, aber das Gesetz redet zum Verstande, nicht zum Gefühl. Schönheit ist Langeweile, eine Ödnis, ein Schulmeistertraum, wenn es bei der Schönheit nichts zu verzeihen gibt. Das Gefühl will etwas zu verzeihen haben, sonst wendets sich‘s gähnend ab.“



Ein herrliches Antidot gegen jedwede Form von Kanonisierung des Schönen, gegen das Manierliche, Gekünstelte und Oberflächliche.


Ein Salut auf die Abweichung, auf das „Unperfekte“. Weg von Monotonie, faden Wänden – hin zu den Auge-bannenden Details und Ornamenten. Dem Normierten, dem Gleichgeschalteten fehlt der Glanz, die Faszination, das unerklärliche Flirren, die sich nur jenseits der Norm einstellen. Sie wissen ja, wenn es bei der Schönheit nichts zu verzeihen gibt …


 


Wie wirkt sie in unserer Welt?


Gehen wir einen großen Schritt weiter. Ist die Wirktiefe des Schönen im Gegenwärtigen, im Zeitgenössischen zu finden? Wie sieht es in unserer heutigen visualisierten Welt aus, in der wir immer früher und immer öfter mit sogenannten „Ikonen der Schönheit“ konfrontiert sind? Unentwegt verfolgen uns Wesenheiten, die nicht schön sind, sondern nur so aussehen. Zu unserem Leidwesen müssen wir feststellen, dass das aktuell Schöne nicht immer das Werk einer intelligenten Ursache ist. Beim alltäglichen Wettbewerb um Partner, Aufmerksamkeit, Arbeitsplätze, Karrieren spielt das Aussehen eine erheblich größere Rolle als noch vor zwei- oder drei Jahrzehnten. Die Schönheit wird auf das Ansehnliche, auf das Gefällige und damit auf das oberflächlich Vergängliche reduziert. Das schöne Aussehen ist demnach eine Art Bewerbungsschreiben, das geneigt machen soll, denjenigen zu bevorzugen, der es präsentiert. Gehen wir noch eine Stufe tiefer! Werfen wir ein Auge auf die Werbung! Es ist völlig ausweglos, den makellos retuschierten Illusionsfiguren ihrer Hochglanzformate zu entkommen. Die Aufgabe dieser manipulierten und manipulativen Schönheit ist es, noch das letzte Quäntchen Konsumfähigkeit aus uns herauszupressen. Die Modelle sind nicht attraktiv, weil sie dieses oder jenes Produkt präsentieren, sondern weil sie attraktiv erscheinen, präsentieren sie uns die Produkte. Es wird uns folglich die Voraussetzung als Ergebnis verkauft. Wir erliegen auch hier erneut der Täuschung zwischen Schein und Wirklichkeit, wie es in Platons Höhlengleichnis exemplarisch ausgeführt ist.



Schönheit will etwas zu verzeihen haben


Das alles kann nicht der Sehnsuchtsimpuls, die fundamentale Seins-Qualität des Schönen sein, geschweige denn die Epiphanie des Göttlichen, die der Mensch durch das Schöne erfährt. Wir sind nicht ansatzweise am Inbegriff des Schönen angekommen.


 


Liegt Schönheit im Gehör?


Vielleicht, weil wir bisher immer nur geschaut und noch nicht einmal gehört haben. Schon Giacomo Casanova wusste, der Weg zur Frau führt über das Gehör. Kann es sein, dass auch die Schönheit im Gehör des Betrachters ist? Lauschen wir gemeinsam einem Sinfoniekonzert! Bei jeder Note, jedem Takt, jedem Satz, erfährt es jeder Einzelne, es geht nicht nur mir so, fast – alle ereilt ein Seelenruf.



Die Schönheit muss außerhalb meines menschlichen Geistes liegen. 1.500 Menschen werden affektiv synchronisiert, werden zu einem ekstatischen Kollektivkörper fusioniert. 1.500 Menschen halten zusammen den Atem an, atmen zusammen ein, aus und auf.


Nach dem letzten Akkord bahnt sich die Schönheit mannigfaltig ihren Weg an die erfahrbare Oberfläche.



In die Stille hinein entlädt sich ein homogener, ekstatischer Jubelschrei.



Betrachten wir die 6. Sinfonie von Gustav Mahler. Es gibt einen ganz besonderen, hellen, einen einzig schönen Funken, einen Moment der Schönheit in der gesamten Sinfonie. In diesem einen Augenblick öffnet sich der Himmel und eine göttliche Hand ergreift uns, schüttelt uns durch und zeigt unmissverständlich, was wir mit dem Verlust der Schönheit aufs Spiel setzen.


Danach werden wir wieder in die Tragödie der eigenen Unzulänglichkeit zurückgeworfen.


Nach diesem Konzert erzählen Sie nicht, dass es schön oder schrecklich war.



Sie tragen diesen einen hellen, diesen schönen Funken in sich und Sie gehen als ein anderer Mensch nach Hause.



Nehmen Sie eine kalte, harte Kirchenbank, die durch menschliche Gesangsstimmen und durch die Töne der Orgel während eines Bach-Chorals eine Aufladung erfährt und eine andere wird. Ebenso können wir eine Weitung des Herzens nicht verhindern. Wir können schlaglichtartige Horizontverschmelzungen mit unserem Leben nicht vermeiden. Wir können die Tränen nicht mehr aufhalten. Wir sind durch die unvergleichliche Schönheit der Musik in den höchsten buddhistischen Zustand gelangt oder besser gesagt erhoben worden. Wir wissen jetzt:



„So ist es!“ Mit diesen drei Worten hat uns die Schönheit in die Wahrheit entführt.



Mit diesen drei Worten sagt uns die Schönheit, was wir in unserem Leben tun und lassen können. In der Wechselwirkung zwischen meinem Leben und der Schönheitserfahrung durch Musik entsteht etwas Neues, etwas Erhabenes. Kunst ist sowohl das Ausdrucksmedium, in der sich die Schönheit artikulieren kann, als auch deren Zentralkategorie. Die Kunst ist die Überbietung der Wirklichkeit im Reich all unserer Sinne. Daher kann nur in der Kunst sich die Schönheit in ihrer vollendeten Form zeigen. Die Vollendung an Schönheit ist erreicht, wenn nichts mehr hinzugefügt und nichts mehr weggelassen werden kann. Was wollen Sie einer Beethoven-Sinfonie hinzufügen? Was wollen Sie von einem Bild Picassos weglassen? Welche Strophe, welche Zeile der Ilias ist nicht aus der Emanation, aus der Vollendung geboren und bedarf einer Korrektur?



Nicht Sie hören die Töne, sie hören in Sie hinein. Nicht Sie sehen oder lesen das Werk, die Werke sehen und lesen Sie. Kunstwerke sind so unendlich viel größer, so unendlich viel schöner als unser kleines Bewusstsein. Sie weiten, erhöhen und vertiefen unser Sein. Das ist auch der Grund, warum das Schöne so schön ist.



Vom französischen Literaten Stendhal stammt die Zeile: „Die Schönheit ist nur ein Versprechen von Glück.“



Nun, die einzige Möglichkeit, die uns Menschen gegeben ist, Zukunft zu gestalten, ist jene, ein Versprechen abzugeben und mit Hingabe alles zu geben, dass es sich erfüllt. Tun Sie das Ihrige dazu. Dürfen wir uns auf eine schöne Zukunft freuen? So ist es! 


Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 160, Januar 2020 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht, Autoren: Ina Meurer UND Manfred Schwarzbraun