Die Suche nach der Wahrheit

Und warum wir dazu den Dialog brauchen

Es hat doch jeder seine eigene Wahrheit! Nein, aber jeder hat seine eigene Meinung. Ist Wahrheit nicht relativ? Nein, es sind unsere Meinungen, die relativ sind. Wieso fällt es uns nur so schwer, Wahrheit und Meinung auseinanderzuhalten? Und wie kann uns der Dialog dabei helfen?


Es war Prometheus, der die Göttin der Wahrheit schuf. Bevor er ihr jedoch Leben eingehaucht hatte, formte Dolos, der personifizierte Betrug eine ihr vollkommen gleichende Gestalt. Prometheus staunte über die Ähnlichkeit und belebte beide. Sodann erhoben sie sich, doch während die Wahrheit gemessen von dannen schritt, kam ihr betrügerisches Abbild nicht vom Fleck. Ist diese Fabel von Äsop gar der Ursprung unseres Sprichwortes „Lügen haben kurze Beine"? Wie dem auch sei: Die Fabel macht uns jedenfalls darauf aufmerksam, wie schwierig Wahrheit und Betrug im Alltag auseinanderzuhalten sind.


 


Glauben – Meinen – Wissen


Dass man sich bis dato auf keine gemeinsame Bestimmung des Begriffs Wahrheit einigen konnte, interessiert mich hier nicht weiter. Auch die gängigen Wahrheitstheorien erspare ich mir – und Ihnen. Vielmehr stelle ich zunächst die einfache Frage, wie wir denn Wissen vom Glauben und vom Meinen unterscheiden können? Glauben heißt nicht wissen, sagt schon der Volksmund. Glauben heißt vielmehr, etwas für wahr zu halten, ohne Interesse an einem Beweis. Oder – wie im Falle eines religiösen Glaubens – die Suche nach einem Beweis sogar abzulehnen und als blasphemisch anzusehen. Der Gläubige ist also subjektiv von der Wahrheit seines Glaubens überzeugt, auch wenn es objektiv keine Begründung dafür gibt.



Das Meinen dagegen – siehe Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft – ist „ein mit Bewusstsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten". Und doch brauchen wir dieses Meinen. Es ist gewissermaßen das uns Menschen Mögliche, denn schon in der griechischen Philosophie herrschte darüber Konsens, dass der Mensch die endgültige Wahrheit nicht erfassen kann. Mit dem Meinen können wir uns der Wahrheit zumindest annähern.


Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nichts wissen können. Natürlich weiß ich, dass Wien die Hauptstadt von Österreich ist. Ich weiß auch, wo ich in meinem Badezimmer die Zahnpasta finde und was sich gerade im Kühlschrank befindet – zumindest meistens. All dieses Wissen brauche ich zum Leben und Überleben im Alltag. Tatsächlich hat Sokrates auch nicht gesagt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß". Das hat ihm später Cicero in den Mund gelegt. Sokrates sagte: „Ich weiß, dass ich nicht weiß!" und bezog sich damit auf die ihm fehlende letztgültige Wahrheit.


Wissen muss also immer begründbar sein. Und begründetes Wissen ist objektiv. Dass Wien die Hauptstadt von Österreich ist, gilt für alle Menschen, unabhängig wer es wann und wo behauptet.


 


Unser Anspruch auf Wahrheit


Nur dass es mit dem völlig objektiven Wissen gar nicht so einfach ist. Theoretisch könnte gerade in diesem Moment eine Regierungserklärung abgegeben werden, dass ab sofort Klein-Klein oder sogar Tschau die neue Hauptstadt Österreichs ist. Und die Zahnpasta hat vielleicht heute Morgen meine Frau eingepackt, weil sie zum Zahnarzt muss. Und was den Inhalt des Kühlschranks betrifft, hat möglicherweise mein Gedächtnis eine Lücke hinterlassen. Kann ich also etwas vollkommen frei von subjektiver Beimischung wissen? Beziehungsweise kann ich mir sicher sein, dass es nicht irgendwelche subjektiven Beimischungen gibt, die mein Wissen infrage stellen?


Tatsächlich müssten wir in den meisten Fällen eine solche Subjektivität einräumen, unser Wissen demnach als ein Glauben und Meinen anerkennen. In der Praxis jedoch ist dies weder lebbar noch sinnvoll. Ich kann nicht die ganze Zeit fernsehen, ob die Regierung nicht doch nach Tschau umsiedelt. Und permanent nach der Zahnpasta zu schauen, um sicher zu sein, dass sie noch da ist, wo ich sie vermute, würde mich eher zu einem Psychiater als zur Wahrheit führen. Also haben wir uns daran gewöhnt, das, was wir glauben und meinen, auch für wahr zu halten. Schließlich richten wir danach auch unsere Lebensgestaltung und unser Handeln aus.


Dies gilt umso mehr für wissenschaftliche Erkenntnisse, denn wie der Name vorgibt, wurde und wird hier ja Wissen geschaffen. Gewissermaßen brauchen wir diese Referenzen, was wir für wahr halten, um uns danach im Leben zu orientieren. Solche Referenzen wechseln entlang der Zeiten: Waren es im Mittelalter die religiösen Institutionen, so sind es heute zumindest in unserer westlichen Kultur die wissenschaftlichen. Doch gerade diese sollten – gemäß den wissenschaftstheoretischen Grundlagen – wissen, dass die Erkenntnis von heute der Irrtum von morgen ist. So haben wir beispielsweise jahrzehntelang Spinat gegessen, weil er ja so eisenhaltig ist. Nur dass sich der Physiologe Gustav von Bunge leider um eine Kommastelle verrechnet hatte: Statt 35 mg pro 100 Gramm sind es lediglich 3,5. Und man bekommt mehr und mehr das Gefühl, dass die Wissenschaft heutzutage einen immer höheren Wahrheitsanspruch anmeldet bei gleichzeitig immer subjektiveren Beimischungen: Abhängigkeiten von Geldgebern, Lobbyismus, Prestigesucht, Publikationsdruck, Oberflächlichkeit u.v.m.


Somit ist einerseits unser Anspruch, unsere Meinungen und unseren Glauben für wahr zu halten, verständlich und praktisch gesehen notwendig.



 


Andererseits sollten wir immer klar haben, dass es sich um eine solche bedingte Gewissheit handelt, sodass wir immer für andere Meinungen offenbleiben. Nur so verhindern wir, dass Glaube zu Aberglaube und Fanatismus und Meinung zu Pseudowissen erstarren. Nur so können wir uns der Wahrheit annähern. Und da kommt der Dialog ins Spiel.


Dialog und Wahrheit


Wenn wir einen falschen Wahrheitsanspruch leben, fällt es uns schwer zu akzeptieren, dass gegensätzliche Meinungen wahr sein können. Ich hatte als Kind ein bis heute nachwirkendes Aha-Erlebnis, als ich mit dem bekannten Kippbild der alten und jungen Frau konfrontiert wurde. Ich sah minutenlang nur die alte Frau und wollte nicht akzeptieren, dass es eine junge Frau sein sollte. Erst durch den geduldig geführten Dialog mit meinem älteren Gegenüber erfasste ich erstmals, dass in unserer relativen Welt zwei unterschiedliche Sichtweisen zur gleichen Zeit wahr sein können.


Wir finden es auch interessant, Diskussionen zu verfolgen, in denen gegensätzliche Auffassungen vertreten werden. Denn dadurch werden wir auf unterschiedliche Gesichtspunkte aufmerksam, die wir davor gar nicht bedacht haben. Angenommen, es kommt ein neues Medikament auf den Markt, beispielsweise eine Impfung. Zunächst werde ich dazu meine persönliche Meinung haben, beeinflusst von einer ganzen Reihe subjektiver Beimischungen: Ängste, Vorurteile, Hoffnungen usw. Dann werde ich versuchen, mir ein objektiveres Bild zu machen. Ich werde aufmerksam unterschiedlichen Auffassungen und Begründungen zuhören. Ich werde erkennen, dass oft nicht vom selben gesprochen wird; dass verschiedene Gesichtspunkte geltend gemacht werden, die aber sogar einander ergänzen können; dass vermeintliche Gegensätze oft aus dem Hervorheben des einen und dem Weglassen von etwas anderem entstehen; dass es immer wieder zu unzulässigen Verallgemeinerungen kommt. Ich werde auch lernen, dass Argumente nicht nur der Durchsetzung der eigenen Meinung dienen, sondern auch dem besseren gegenseitigen Verständnis.


So werden mich das Zuhören und der Dialog, also die aktive Auseinandersetzung mit der Ansicht des anderen, zu einer ganzheitlicheren Schau führen, aus der heraus ich mit mehr Gewissheit meine Haltung und mein Verhalten ableiten kann. Es ist also der Dialog, der mich näher an die Wahrheit heranführt.


Sieben Schritte zu einem gelingenden Dialog


Da die Suche nach der Wahrheit mittels des Dialoges davon abhängig ist, wie sehr ein Dialog ge- beziehungsweise misslingt, erlaube ich mir, einige praktische Anregungen hinzuzufügen:



Mehr innerer Dialog: Je mehr ich mir meiner inneren Überzeugungen, aber auch meiner subjektiven Tendenzen bewusst bin, desto bewusster und objektiver kann ich zuhören und einen Dialog führen.
Ich selbst sein: Nicht kalkulieren, nicht scheinen wollen, nichts erreichen wollen, nicht manipulieren.
Wissen, dass ich nicht weiß: Je offener ich mein Nicht- oder Halbwissen vor mir selbst zugeben kann, umso offener bin ich gegenüber neuen Ansichten.
Großzügig sein: Je mehr ich anderen Meinungen gegenüber großzügig bin, aber auch gegenüber anderen Ausdrucksweisen und anderen Bedürfnissen und Empfindungen, desto mehr kann ich mich einem anderen gegenüber öffnen. Oft sind es formale Dinge, beispielsweise wenn jemand zu viel oder zu emotional redet, wodurch ich mich verschließe.
Nicht moralisieren: Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger agieren, nicht den anderen in fixe Kategorien einordnen „du bist immer so und so...".
Den Konflikt akzeptieren: Einerseits muss ich das Risiko eingehen, dass meine Meinung erweitert oder sogar umgestoßen wird, andererseits muss ich aber auch akzeptieren, dass ich die Meinung des anderen zu Fall bringen kann. Diese Art von Konflikt ist für jede Weiterentwicklung notwendig, wird aber destruktiv, wenn er sich mit persönlichen Befindlichkeiten oder Beleidigungen vermischt.
„Erstaunlich": Wenn ich mit etwas überhaupt nicht einverstanden bin oder umgehen kann, dann muss ich irgendwie die Distanz zur Situation wahren, damit ich nicht in Reaktionen des persönlichen Egos, wie zum Beispiel Ärger, Enttäuschung, Flucht und Ähnliches falle. Meine Strategie dafür lautet seit Langem, dass ich für mich innerlich oder sogar nach außen das Wort „erstaunlich" ausspreche.


Vor Kurzem erklärte mir jemand, dass in dieser Pandemie sowieso jeder seine eigene Wahrheit hätte, und dass Wahrheit überhaupt grundsätzlich relativ und daher der Dialog von vornherein umsonst sei: „Erstaunlich"!


 


Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 168, März 2022 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht, Autor: Hannes Weinelt