Pythagoras - Mystiker oder Vater der Mathematik?

Heute kennen wir den griechischen Philosophen Pythagoras in erster Linie als Mathematiker. Doch kennen sie auch seine Ideen der Weltenseele und der Spärenmusik?

Obwohl seine genaue Herkunft unbekannt ist, sind sich die meisten Autoren, darunter auch Porphyrios, darüber einig, dass er auf der ionischen Insel Samos um 560 v. Chr. geboren wurde und ebendort aufgewachsen ist.
Sein Vater Mnesarchos war ein Goldschmied tyrrhenischer Herkunft, der mit Griechen und Phöniziern Handel betrieb. Seine Mutter Parthenis stammte von Ankaios, dem Gründer von Samos ab. Iamblichos berichtet, dass Mnesarchos auf einer seiner Reisen nach Syrien gemeinsam mit Parthenis Delphi besucht hat. Die Priesterin des Orakels des Apollo prophezeite, dass die Reise erfolgreich verlaufen würde und dass der Sohn, den sie erwarteten, schön und weise sein und der Menschheit einen großen Dienst erweisen würde. Ab diesem Zeitpunkt nannte Mnesarchos seine Frau Pythais und taufte seinen Sohn nach dessen Geburt Pythagoras, was „der Altar der Pythia“ bedeutet.



Raffael: Die Schule von Athen (1511), vergrößerte Darstellung von Pythagoras



Pythagoras hatte zwei ältere Brüder: Eunostos und Tirrhenus. Er heiratete Theano, eine junge Frau aus Kroton, die in seiner Schule Mitglied war. Sie hatten eine Tochter, Damo, und einen Sohn, Telauges, welcher der Überlieferung nach der Lehrer des Empedokles war.  

Als Pythagoras noch sehr jung war, wurde er bereits von seinem Onkel Zoilos dem Philosophen Pherekydes von Syros empfohlen, der sein erster Meister und Lehrer wurde. Historiker sind uneins darüber, woher dieser wichtige Meister kam. Ob er nun aus Ionien oder Syrien stammte – fest steht, dass er der chaldäischen Tradition angehörte. Diese hatte ihren Ursprung in Babylonien und widmete sich den Mysterien der Mathematik und Astronomie. Pythagoras blieb bei Pherekydes bis zu dessen Tod. Danach unternahm er einige Reisen innerhalb Ägyptens. Von Polykrates erhielt er eine Empfehlung beim Pharao Ahmose, der dafür sorgte, dass Pythagoras von unterschiedlichen Hohepriestern in verschiedenen Zentren oder „Häusern des Lebens“ gelehrt wurde. Hauptsächlich wurde er in Heliopolis und Memphis unterrichtet. Dort erlernte er die Bedeutung der Hieroglyphen und der geheimen Wissenschaft. In dieser Zeit besuchte er auch Mesopotamien, wo er vermutlich mit Magiern in Kontakt kam, Priestern, die der Doktrin Zarathustras folgten.

Zudem besichtigte er auf Kreta jene Höhle im Idagebirge, in der Zeus aufgewachsen ist. Dort erfuhr er durch die Dactyli-Priester eine Reinigung. Er kam auch mit anderen großen Philosophen der damaligen Zeit in Kontakt wie etwa Anaxagoras und Thales von Milet.
Nach seiner Rückkehr nach Samos gründete Pythagoras den pythagoreischen Bund, eine philosophische Schule, in der philosophische Themen und Angelegenheiten öffentlichen Interesses diskutiert wurden. Mit seinen engsten Anhängern traf er sich in einer abgelegenen Höhle am Rande der Stadt, wo er ihnen seine geheimsten Lehren vermittelte.
Die Tyrannei des Polykrates zwang ihn dazu, im Alter von 40 Jahren ins italienische Kroton zu ziehen. Seine herausragende Persönlichkeit hatte damals ihre Blütezeit erreicht. Er hob sich von der Masse der Gelehrten in der Stadt ab und wurde dort von vielen als großartiger Berater und Lehrer gepriesen. Sein Einfluss in den Städten der Magna Graecia nahm beständig zu. Gemeinsam mit seinen Anhängern Charondas aus Katana und Zaleukos aus Lokri verfasste er für diese Städte Gesetze und Verfassungen.

Genau wie bei Pherekydes bildeten Prophezeiungen, Vorahnungen und die Interpretation von Omen, sprich wundersamen Ereignissen, einen festen Bestandteil im Leben des weisen Pythagoras. All das vermehrte seinen Ruhm und sein Ansehen, rief aber zugleich Neid und Feindseligkeit bei seinen Gegnern hervor. Cylon von Kroton, ein reicher Aristokrat mit despotischem und gewalttätigem Charakter, versuchte der Schule des Pythagoras beizutreten. Nachdem der Philosoph ihm dies verwehrt hatte, plante Cylon im Geheimen einen Angriff auf ihn und seine Anhänger. Er setzte das Haus des Athleten Milon in Brand, nachdem sie sich alle dort versammelt hatten. Bei diesem Anschlag kamen sämtliche Anhänger des Pythagoras ums Leben – mit Ausnahme von Archippos und Lysis, die fliehen konnten. Pythagoras selbst weilte zu diesem Zeitpunkt nicht in Kroton. Nach dem Anschlag war er aufgrund der unsicheren politischen Situation in anderen Städten dazu gezwungen, von Stadt zu Stadt zu ziehen, da diese Instabilität ihn in große Gefahr brachte. Schließlich fand er im Musentempel von Metaponto Zuflucht, wo er auch verstarb.   



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Damit begann die Diaspora der Anhänger des Pythagoras; gleichzeitig setzten auch deren Bemühungen ein, die Lehren ihres Meisters niederzuschreiben. Dieser hatte anscheinend keinerlei Schriften verfasst. Diogenes Laertios zufolge verdanken wir diesen Bemühungen eine Reihe von Abhandlungen zu Institutionen, Politik und Physik ebenso wie Schriften über die Seele, das Universum und die Frömmigkeit.


Pythagoreische Lehren


Den Begriff Philosophen soll der ionische Meister erfunden haben, als er sich selbst als einen Menschen bezeichnete, der „die Weisheit liebt“, wobei er aus Bescheidenheit die Bezeichnung Sophos (weiser Mann) ablehnte. Philosophen gehören einem besonderen Geschlecht an: Sie sind Menschen, die inmitten des tosenden Lebens ihre Zeit dem Studium des Wesens der Dinge widmen, anstatt sich um Ruhm und Beifall oder Geld und Profit zu kümmern.

Historiker finden Ähnlichkeiten zwischen den pythagoreischen Lehren und jenen der orphischen Religion und Mysterien, da beide einen praktischen Charakter haben. Dieser zielt Porphyrios zufolge darauf ab, den Geist zu bewahren und ihn durch einen Prozess der Reinigung von Hindernissen und Einschränken zu befreien. Dies würde die Kontemplation von körperlosen ewigen Wesenheiten ermöglichen, wodurch der Blick der Seele geschickt auf die Kontemplation authentischer Realitäten gelenkt wird.
Seine Anhänger waren in zwei Kategorien unterteilt: Die mathematikoi verschrieben sich vollends ihrem Leben als Philosophen, während die akousmatikoi dieses Streben mit ihren privaten und sozialen Aufgaben verbanden.

In seinem Bestreben, ewige Wahrheiten zu konzeptualisieren, wandte sich Pythagoras der Mathematik zu. Diese heilige Wissenschaft betrachtete er als die beste Methode, die Urprinzipien sowie die vereinigenden Kräfte des Kosmos und Konzepte wie Gleichheit, Verschiedenartigkeit und Veränderlichkeit zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen. Dieser Auffassung nach folgt die gesamte Schöpfung numerischen Regeln und Verhältnismäßigkeiten, die in der Dekade enthalten sind: der perfekten Zahl, die alle restlichen enthält. Die Zahlen gelten den Pythagoreern daher als Grundbausteine.

Diese Ideen finden sich im Begriff der Harmonie wieder, die ein grundlegendes Konzept der pythagoreischen Bewegung ist. Harmonie manifestiert sich im gesamten Universum – vom Zusammenspiel der Rhythmen, welche die Himmelskörper bei ihren Bewegungen im Weltall erzeugen (bekannt als „Sphärenmusik“), bis hin zur sinnlich erfahrbaren Harmonie, die z.b. mithilfe der Kunst der Musik die Seele reinigt. Harmonie wird nicht auf physischer Ebene hergestellt, sondern in der Beziehung der kosmischen und moralischen Ordnung zueinander, im Herzen der Weltenseele.
Eine weitere pythagoreische Lehre befasste sich mit der Unsterblichkeit der Seele und ihrer Wanderung von einem Körper zum nächsten, die sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten vollführt.




Freundschaft war für Pythagoras von großer Bedeutung, da sie als eine der Grundvoraussetzungen für Zusammenleben galt. Folgender bekannter Ausspruch verdeutlicht diese Vorstellung: „Das Gut der Freunde ist ein gemeinsames Gut.“
Antike Historiker haben oft auf den praktischen Aspekt der pythagoreischen Lehren hingewiesen. Sie zitierten auch häufig Pythagoras‘ Empfehlungen für ein ausgewogenes Leben auf körperlicher und geistiger Ebene. So riet er beispielsweise, am Ende eines Tages eine Meditation durchzuführen, in der man sich fragt: „Wo bin ich heute hingegangen? Wo war ich? Und was habe ich getan, das ich nicht tun hätte sollen?“  

Er empfahl den Menschen ebenfalls, ihr Gedächtnis zu trainieren und sich so zu verhalten, dass ihre Freunde nicht zu ihren Feinden werden. Vielmehr sollten sie ihre Feinde zu Freunden machen. Diese und weitere Regeln wurden später in einem Werk mit dem Titel „Die goldenen Verse“ festgehalten.

Platon beschreibt die Philosophie der Pythagoreer in „Der Staat“ als eine Lebensweise. Viele seiner philosophischen Theorien folgen sogar der pythagoreischen Tradition, die durch die Schriften des Philolaos in die Platonische Akademie Eingang fand. Philolaos war der Erste, der die Abhandlungen des Pythagoras niedergeschrieben hatte. Historikern zufolge hat Dion von Syrakus diese Schriften von den Nachkommen des Philolaos für Platon gekauft und dafür einen hohen Preis bezahlt. Der Dialog „Timaios“ beinhaltet die Doktrin, die Platon eben diesen Abhandlungen entnommen hat.


Dieser Artikel ist eine Übertragung aus dem Englischen und wurde auf library.acropolis.org im Original veröffentlicht.