Die Stimme der Stille
Ein rätselhaftes Buch aus Tibet - eine der alten heiligen Schrift Asiens wurde erst im 19.Jhdt im damals verbotenen Tibet entdeckt. Von der Russin Helena Petrowna Blavatsky.
Dieses rätselhafte Buch wurde von einer ebenso rätselhaften Persönlichkeit verfasst: Helena Petrovna Blavatsky (1831-1891). Nach abenteuerlichen Reisen gelang es ihr als erste Europäerin, 1866 in das damals verbotene Land Tibet einzureisen und dort mehrere Jahre mit geheimnisvollen „Meistern“ zuzubringen. Als sie 1889 „Die Stimme der Stille“ veröffentlichte, erklärte sie selbst, dass dies nicht ihr Werk ist. Nach ihren Aussagen handelt es sich dabei um eine Übersetzung aus dem sogenannten „Buch der goldenen Lehren“, dessen Urtext in einem ideografischen Geheim-Alphabet abgefasst ist. Sie lernte 39 von den insgesamt 90 kleinen Abhandlungen auswendig, eine davon ist „Die Stimme der Stille“. Von den anderen sagte sie: „Sie könnten auch nicht alle übersetzt und einer Welt gegeben werden, die zu selbstsüchtig ist und zu sehr an den Gegenständen der Sinne hängt, als dass sie auch nur einigermaßen vorbereitet wäre, eine so erhabene Ethik im rechten Geiste aufzunehmen.“
Worum es nicht geht.
Gleich zu Beginn heißt es im Buch, diese Unterweisungen „sind für jene bestimmt, welche die Gefahren der niederen Siddhis nicht kennen“. Unter dem Sanskritbegriff Siddhi versteht man psychische Fähigkeiten, wie zum Beispiel Hellsehen oder Hellhören. Diese Kräfte werden in den philosophischen Schulen des Ostens als vollkommen natürlich angesehen, wenn sie auch in den meisten Menschen noch latent sind. Laut einer dieser Schulen sind sie auf fünf Arten zu erlangen – durch Geburt, Drogen, Mantras (magische Formeln), Bemühungen und Samadhi (Versenkung). Blavatsky unterscheidet zwischen niederen (psychischen) und höheren (spirituellen) Siddhis und warnt eindringlich vor allen Praktiken und generell dem Verlangen, psychische Fertigkeiten zu erwerben. Vielmehr soll sich der Einzelne um die natürliche Entwicklung seines physischen Körpers und seiner Energien sowie um den richtigen Umgang mit seinem Fühlen und Denken bemühen. Doch dies ist vielen zu gewöhnlich – und auch zu anstrengend.
Und hier kommen die Gefahren ins Spiel. Die erste ist der Stolz. Wenn jemand über irgendeine außergewöhnliche Gabe verfügt oder eine noch unbekannte Methode erlernt hat, fühlt er sich rasch über seine Mitmenschen erhaben oder mit einer besonderen Mission ausgestattet, und natürlich mit einem unfehlbaren, vielleicht sogar von höheren Mächten geführten Gespür. Festgestellt habe ich in diesem Zusammenhang: je kleiner das Wissen und die Bildung, umso größer der Stolz und der Glaube an die eigene Unfehlbarkeit. Genau diese Unwissenheit ist eine zweite Gefahr. Nur weil man etwas sieht oder spürt, heißt dies noch lange nicht, dass man es auch richtig interpretiert. Dazu braucht es ein ernsthaftes Studium und jahrelange Erfahrung und nicht ein Wochenendseminar. Eine dritte Gefahr ist die Unreinheit. Vor allem unreine Absichten, sei es das Verlangen nach Geld oder nach Macht über andere oder das schlichte Streben nach Anerkennung und Aufmerksamkeit.
Worum es also nicht geht, ist das Erlangen psychischer Kräfte. In fast allen hinduistischen und buddhistischen Schulen wird es sogar als Ablenkung betrachtet, als Einschlagen eines Nebenpfades. Und wie ein Kind, dem man ein Messer in die Hand gibt, bevor es die Kontrolle über sich selbst und die Kenntnis besitzt, damit richtig umzugehen, setzt man sich großen Gefahren aus.
Ich denke, also bin ich in der Illusion
„Der Verstand ist der große Zerstörer des Wirklichen. Der Schüler soll den Zerstörer zerstören.“
Dies klingt für unsere aufgeklärten Ohren, denen von Kindheit an die göttliche Ratio vorgebetet wurde, fast blasphemisch. Natürlich ist hier nicht gemeint, den Verstand zu zerstören, sondern seine Unruhe, seine ziellose Geschwätzigkeit. Die meisten Menschen befinden sich in einer permanenten Gedankenmühle. Ebenso wie das physische Auge nichts scharf und klar sehen kann, wenn es unruhig umherwandert, kann auch der unruhige Verstand nichts klar erkennen und erzeugt unentwegt Illusionen. Wir bilden uns ein, Dinge gehört zu haben, die nie gesagt wurden. Oder etwas nie gehört zu haben, was mehrmals gesagt wurde. Wir bilden uns ein, dass man uns angreift oder schaden will, oder dass wir etwas Besonderes sind. Wir schaffen es nicht, Dinge und Ereignisse als das zu sehen, was sie sind. Wir bewerten sie unentwegt als gut oder schlecht, als angenehm oder unangenehm, usw. Das Problem ist nicht der Verstand. Er wird in der Stimme der Stille sogar als „Himmelssohn“ bezeichnet, als im Himmel geboren, aber eingetaucht in den Ozean der Scheinwelt. Das Problem sind die sich daraus ergebenden Verzerrungen, die Denkmuster und Vorurteile. Diese müssen zerstört werden.
Erst wenn man Stille erreicht hat, beginnt man die Stimme aus dem Inneren, die Stimme der Stille, zu hören. Und um den plappernden Verstand zum Schweigen zu bringen, muss man das Wesen von Dharana kennenlernen. Die Wortwurzel dhri bedeutet halten. Dharana ist das Halten des Denkens, die Fähigkeit der Konzentration. Meditation und Kontemplation können nicht erfolgreich sein, wenn davor nicht Konzentration geübt wurde. Von Blavatsky wird die Geschichte erzählt, dass sie auf die Frage, worüber man meditieren solle, eine Streichholzschachtel auf den Tisch warf und sagte: „Meditieren Sie darauf!“ Es macht keinen Sinn über das Absolute zu meditieren, wenn man sich nicht einmal eine Minute ohne Ablenkung von Gedanken, Gefühlen und Sinneseindrücken auf eine Streichholzschachtel konzentrieren kann. Erforderlich ist es, sein Denken ruhig zu halten, einen Gegenstand mit vollkommener Gelassenheit zu betrachten, ohne jegliche Anspannung, so als würde man auf seine Uhr schauen, um zu sehen wie spät es ist, aber dies über einen längeren Zeitraum.
"Gib dein Leben auf, wenn du leben willst."
Auch dieser Satz wird nicht sofort unsere Sympathie ernten. Im Allgemeinen sind wir zufrieden mit unserem Leben. Wir haben es uns so angenehm wie möglich eingerichtet, wir wohnen in geräumigen Wohnungen oder Häusern, wir sind mit eigenen Autos unterwegs, wir gehen aus, wir fahren auf Urlaub. Und für all das arbeiten wir ja brav. Erst wenn uns diese Art zu leben nicht von einer lebensbedrohlichen Krankheit heilen kann, unsere gescheiterte Ehe nicht retten kann, uns unsere verstorbenen Eltern, Partner oder gar Kinder nicht zurückbringen kann, ja uns nicht einmal einen Lebenssinn zu geben vermag, realisieren wir – vielleicht – , dass wir ein Scheinleben führen.
Ziel ist es also nicht, unser Leben aufzugeben, sondern unser Scheinleben. Zu akzeptieren, wie der Buddhismus lehrt, dass das Leben auch Schmerz beinhaltet. Aber natürlich nicht im Schmerz verweilen und daraus ein Leiden samt Leidensmiene machen, sondern Ursache und Heilung des Schmerzes aktiv suchen. Das heißt, alte Gewohnheiten, alte Vorurteile, manchmal auch alte, nicht mehr fruchtbare Freundschaften oder Partnerschaften aufzugeben. Also das alte Leben aufzugeben, um ein neues zu starten. So wie wir einen Schritt vor den anderen setzen, den alten Standpunkt verlassen, um vorwärtszukommen, setzen wir ein Leben vor das andere.
Vom Nichtwissen zur Weisheit
Der Weg des Lebens führt in der Stimme der Stille durch drei Hallen. Die erste ist die Halle des Nichtwissens,
„in der du das Licht der Welt erblicktest,
in der du lebst und sterben wirst“.
Es ist ein Dahinleben in Unwissenheit und Unbewusstheit. Die großen Fragen des Lebens, woher kommen wir, wohin gehen wir und wozu leben wir, werden nie gestellt. Wir suchen das Angenehme und fürchten das Unangenehme, wir folgen den momentanen Leidenschaften und Bedürfnissen, ohne an das Morgen zu denken.
„Wenn du die erste Halle sicher durchschreiten willst,
dann habe Acht, dass dein Verstand die Feuer
der Lüste, die in ihr brennen,
nicht fälschlich für das Sonnenlicht des Lebens hält.“
Wie erklären wir das unseren Kindern, wenn sie ihr Glück an das neue I-Phone oder an die Markenjean hängen? Vor allem, wenn wir das unsere vom neuen Auto, vom Traumurlaub oder vom Traumpartner abhängig machen?
„Der Name der zweiten ist Halle des Lernens.
In ihr wird deine Seele die Blüten des Lebens finden,
aber unter jeder Blume ringelt sich eine Schlange.“
Es ist die Halle des falschen Wissens, der Kopf-Gelehrsamkeit im Gegensatz zur Seelen-Weisheit. Nicht unbedingt muss Gelehrsamkeit ein Hindernis sein. Aber wie wir heute in den Wissenschaften und Religionen sehen können, verschanzt man sich gerne hinter Hypothesen und Dogmen, hinter fixen Vorstellungen und Schemen, in die alles Neue hineinpassen muss. Und wenn es nicht passt, wird es zurechtgestutzt, lächerlich gemacht oder diffamiert. Die einen hängen im Darwinismus fest, die anderen in der Schöpfungsgeschichte. Die einen verleugnen alles Göttliche, die anderen sprengen sich in die Luft, um Gott gefällig zu sein. Die einen verteidigen die Demokratie, die ungezügelte Freiheit, in der man gleichzeitig von Drogen, Alkohol, Sex und Konsum abhängig ist. Die anderen halten sich sklavisch an religiöse Vorschriften, an fleischlose Freitage, an denen man mit Fisch und Kaviar fastet, oder an den Fastenmonat Ramadan, in dem erst nach Sonnenuntergang gevöllert wird.
„Wenn du die zweite Halle sicher durchschreiten willst,
dann bleibe nicht stehen“,
das heißt, verschanzen wir uns nicht hinter momentanen Meinungen, Wissensständen oder Dogmen. Hinterfragen wir. Ständig.
„Der Name der dritten Halle ist Weisheit, […]
in der alle Schatten unbekannt sind,
und wo das Licht der Wahrheit in unvergänglicher Herrlichkeit strahlt.“
Sie wird auch als „Halle der Geburt“ bezeichnet, der sogenannten zweiten Geburt, der Initiation. Hier erlangt der Mensch Vollendung. Und die Stimme der Stille ist eines jener großen Werke der Menschheitsgeschichte, das einen Weg zur Vollendung aufzeigt. Einen steilen Weg. Einen für uns wohl zu steilen Weg. Denn unsere „Gedanken zum Schweigen“ zu bringen, all unsere „Begierden zu ertöten“, „jede Menschenträne auf unser Herz fallen zu lassen“ sind zu steile Ziele. Und wenn am Ende gefragt wird:
„Wo ist jetzt deine Individualität, o Jünger, wo ist der Jünger selbst?
Ein Funke ist aufgegangen im Feuer, ein Tropfen im Ozean“,
dann müssen wir wohl zugeben, dass uns dieser Gedanke mehr erschreckt als attraktiv erscheint.
Und doch ist dieses Büchlein ein Juwel. Es lüftet etwas vom wirklich Esoterischen, vom noch Verborgenen und Geheimnisvollen, das uns gleichzeitig magisch anzieht und angstvoll abstößt. Und das in einer unvergleichlichen Poesie.
Die Entdeckerin der Stimme der Stille
Helena Petrovna Blavatsky wurde 1831 in adeligem Hause in Russland geboren, das sie jedoch fluchtartig nach ihrer Eheschließung mit dem General Blavatsky verließ. Schon als Kind zeigte sie außergewöhnliche geistige und psychische Begabungen, die sie auf ihren zahlreichen Reisen durch alle Erdteile zu verstehen und zu vervollkommnen versuchte. Nachdem es ihr 1866 als erste Europäerin gelang, nach Tibet einzureisen, wurde sie dort von rätselhaften Meistern unterrichtet und studierte Schriften, wie zum Beispiel die „Stanzen des Dzyan“, deren Existenz erst viele Jahre nach ihrem Tode bewiesen werden konnte. Auf Basis dieser uralten Weisheits-Überlieferungen verfasst sie bahnbrechende Werke wie „Isis entschleiert“ und „Die Geheimlehre“. Darin griff sie das gesamte Establishment ihrer Zeit frontal an: die damalige Wissenschaft, die christlichen Kirchen und auch die Bewegung des Spiritismus, was ihr bis heute zahlreiche Kritik einbringt.
Gleichzeitig inspirierte sie eine ganze Generation von Wissenschaftlern, wie Albert Einstein oder Thomas Edison, und kann als Auslöserin einer spirituellen Reform- sowie der späteren New Age-Bewegung betrachtet werden. 1875 gründete sie gemeinsam mit Henry Steel Olcott und William Q. Judge die Theosophische Gesellschaft, aus der sich zahlreiche andere Organisationen bildeten, darunter die Anthroposophische Gesellschaft. Leider spalteten sich später auch radikale Organisationen wie die Thule-Gesellschaft ab, aus deren Ideologie sich der Nationalsozialismus speiste, wo Teile des Wissens missinterpretiert und auch missbräuchlich verwendet wurden.
Literaturhinweis:
Helena Petrovna Blavatsky, Die Stimme der Stille, Adyar Studienausgabe, Satteldorf, 1994.
Die Stimme der Stille, Gespräche von Annie Besant und C.W. Leadbeater, München, 1986.
Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 139, Januar 2015 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht, Autor: Hannes Weinelt